Abdul klatscht total verkehrt

■ Bundesweit einmalig: Im SZ Regensburger Straße bleiben Behinderte und Nichtbehinderte auch in der Sekundarstufe zusammen

„Komm doch bit-te her, komm doch bit-te her, komm lie- ber doch nicht.“ Elf Kinder trommeln und klatschen zu den Sätzen der Lehrerin, jedes seinen eigenen Rhythmus. Abdul ist begeistert, schaukelt mit dem Kopf, singt und klatscht völlig verkehrt. Hinter Dirkie sitzt ein Lehrer und malt mit den Fingern Zahlen auf seinen Rücken oder klopft einen Takt. Orientierungsstufe, sechste Klasse, zwei Mongoloide unter lauter Nichtbehinderten, eine normale Musikstunde. Nur einer starrt unverwandt die Behinderten an: Das ist Pierre. Er ist Gastschüler und den ersten Tag in dieser Schule.

Das Schulzentrum Regensburger Straße in Findorff ist seit einem Jahr Ziel pilgernder Pädagogen und Soziologen aus dem deutschen Sprachraum. Hier wird bundesweit erstmals der Versuch unternommen, Klassen von geistig Behinderten und Nichtbehinderten auch nach der Grundschule miteinander „kooperieren“ zu lassen, was nicht weniger heißt als: In möglichst vielen Fächern werden die Kinder beider Klassen gemeinsam unterrichtet.

Damit entwickelt die Bremer Bildungsbehörde zusammen mit Eltern und Lehrern eine Art „Soft-Version“ des umfassenderen Integrationsmodells, das die Sonderpädagogik ganz abschaffen und alle Behinderten in die Regelschule integrieren will.

„Integration“ ist ein bildungspolitisches Reizwort, ein spätgeborenes Kind der Bildungsreform und in den meisten Bundesländern auf wenige Schulversuche beschränkt. Lediglich in Hamburg ist die Integration behinderter Schüler im Kindergarten- und Grundschulbereich weitgehend durchgesetzt, in Bremen wird innerhalb eines Modellversuchs getestet, ob nach einem gemeinsamen Lehrplan unterrichtet werden kann.

Im übrigen sind alle Bremer Grundschulklassen für geistig Behinderte ausnahmslos den Regelschulen kooperativ angegliedert. Die drängende Frage bei allen Integrations- und Kooperationsmodellen indes lautet: Was geschieht mit behinderten Kindern, die einschließlich der Kindergartenzeit sieben oder acht Jahre lang zusammen mit Nichtbehinderten aufwuchsen, in der Sekundarstufe? Die Antwort auch in Bremen hieß bislang: zurück zur Sonderschule oder in eine der Regelschule angegliederte Spezialklasse.

Der „Verlag 22“ ist eine Gründung der Klassen 6 H (Behinderte) und 6 B (Nichtbehinderte), deren Klassenräume vis- a-vis auf demselben Flur liegen. Ein Gedichtebuch wird gerade aufgelegt. Ein Fall für viele Fächer, da heißt es schreiben, drucken, Schmuckleisten malen, einen Titel erfinden, ein Impressum inklusive ISDN-Nummer ausdenken – Projektunterricht eben.

„Atze, ist heute Verlagskonferenz?“ schreit Denis in der Pause durch den Flur. „Jau!“ Atze ist eigentlich Herr Caspar und unterrichtet an der Orientierungsstufe Deutsch, Werken, Kunst und Welt- bzw. Umweltkunde. Einer der Lehrer, die mal den Kopf voll antiautoritärer Summerhill-Ideen und Freinet-Reformpädagogik hatten, die darunter leiden, daß der Einstellungsstop im Öffentlichen Dienst die Kollegien vergreisen läßt und daß der Schulalltag in Routine erstarrt. In die Kooperation hat er sich vor gut einem Jahr mit einer Begeisterung gestürzt, die bis heute anhält. Denn hier ist alles anders.

Die Verlagskonferenz, so etwas wie die Vollversammlung aller 22 Schüler (unter ihnen vier Behinderte, ein schwer mehrfach behindertes Kind ist krank) und der drei Lehrer, die heute das „Team“ bilden, diskutiert das Verlagsemblem. Um die vier Linolschnitte, die als Vorschläge auf dem Tisch liegen, wird ausgiebig gestritten und dann abgestimmt. Mit der Stimme Abduls, dessen Hand seine Tischnachbarin in taktischer Absicht mit hochgehoben hat, gewinnt die Palme mit Sonne.

Nachdem fällige Arbeiten besprochen und verteilt worden sind, beginnt eine Unterrichtsphase, die der Schrecken eines jeden ordentlichen Pädagogen sein muß: In drei Klassenräumen zugleich gehen die Kinder in Kleingruppen, deren Zusammensetzung auch noch andauernd wechselt, ans Werk. Nicole hat Abdul einen Arm um die Schulter gelegt und zieht mit ihm zum Kunstraum ab, wo er sein persönliches Exlibris in Linol schneidet. Denis hilft Dirk bei der Schmuckleiste für seine Buchseite, auf der stehen wird: „Der Himmel / Der Himmel ist blau / Ich und Anna- Lena / Spielen / Schön / Im Schwimmbad.“

Die meisten Schwierigkeiten haben alle Kinder beim Punkt „Die Autoren stellen sich vor“ – wie erklärt man „Kooperationsklasse“? Schließlich – die ersten packen schon ihren Gameboy aus – präsentieren die Kinder den Lehrern stolz ihre Ergebnisse. Denis und Dirk: „Wir haben gute Arbeit geleistet!“

Fadime geht's heute nicht gut, sie spielt lieber in einer Kiste mit Sand. Um sie kümmert sich Sabine Reiche, Sonderschullehrerin. Michael Haas ist der dritte im Team, für alle Lehrer ist es eine reizvolle, aber nicht nur unproblematische Situation, plötzlich quasi öffentlich und also kritisierbar zu unterrichten. Es sei die Arbeit mit den Behinderten, sagen sie, die sie zu mancherlei Umdenken zwingt.

Frontalunterricht könne man völlig vergessen. „Offener Unterricht“ sei die Methode der Wahl, bei der jeder Schüler in seinem Tempo auf einem angemessenen Niveau arbeiten kann. Und so entsteht fast gezwungenermaßen eine Unterrichtsform, die eine ganze Reihe alter reformpädagogischer Forderungen erfüllt: Kinder können sich im Unterricht bewegen, in Neigungsgruppen ihrem Entwicklungsstand entsprechend lernen, Themen werden aus der Sicht verschiedener Fächer handlungsbezogen beleuchtet, und kooperative (wie hochmotivierte) Lehrer begleiten die Schüler.

Für solchen Unterricht sind nicht nur Behinderte dankbar. Im Stadtteil hat sich herumgesprochen, daß es hier eine gute Schule gibt, und die Zahl der Bewerbungen Nichtbehinderter ist immer größer als die der Plätze in der Klasse.

Das gilt nicht für die Lehrer. In der Tat ist es schwierig, für solche Projekte genügend Pädagogen zu finden, die sich auf Neues einlassen wollen. Teamarbeit haben sie schließlich in aller Regel nicht gelernt, wohl aber Einzelkämpfertum hinter undurchdringlicher Fassade. Da die Arbeit in Kooperationsklassen Neuland ist und man sich nicht auf fertige Konzepte und Fachliteratur stützten kann, birgt sie Risiken, zu denen man schon bereit sein muß.

Darüber hinaus gibt es auch bei Lehrern ganz massive Berührungsängst gegenüber Behinderten. Zunehmend hört man allerdings inzwischen den Einwand, daß schon in Regelschulen der Anteil der „Behinderten“, d.h. vor allem der psychisch Beeinträchtigten, Lern- und Verhaltensgestörten so groß sei, daß man sich zusätzliche betreuungsintensive Schüler nicht vorstellen kann. Für Caspar ist dagegen klar: Kooperation ist der Weg weg vom Schulfrust. Und: „Es entsteht Qualität durch Kooperations-Lehrer.“

Es geht auch noch um eine ganz andere Qualität. Nach den Ausländern, das zeigt die jüngste Geschichte ebenso wie die ältere, sind die Behinderten „dran“, wenn es darum geht, Schuldige zu finden für das soziale und wirtschaftliche Elend.

Große Pause im Schulzentrum Regensburger Straße: Jan, ein kräftiger Junge mit Down-Syndrom, der seinen Körper einsetzen kann und will, spielt mit Klassenkameraden und älteren Jungen Basketball. Fadime dagegen irrt über den Schulhof und nähert sich einer Gruppe älterer Mädchen, offensichtlich auf der Suche näch körperlicher Nähe und Sicherheit. Diese kichern erst, sind irritiert und ergreifen schnell die Flucht. Eine Klassenkameradin kommt des Weges, nimmt Fadime in den Arm und bringt sie in eine Ecke, wo die Mädchen der 6. Klasse stehen. In der Regel genügt ein Blick, um festzustellen, welche Kinder den Umgang mit Behinderten gewohnt sind und welche nicht.

Doch obwohl vielbeachtet und gerade jetzt überaus sinnvoll: Das Bremer Kooperationsmodell ist keineswegs abgesichert. So wissen die jetzigen Sechstklässler heute noch überhaupt nicht, ob sie auch in Klasse 7 kooperativ „beschult“ werden. Daneben müßten zum Schuljahr 94/95 drei oder vier neue Kooperationsklassen entstehen, aber niemand weiß, wo man die behindertengerecht unterbringt.

Erklärter Wille der Bildungsbehörde sei zwar, wie die zuständige Referentin Barbara Kleinert-Molitor betont, „daß alle Sonderschulkinder in Regelschulklassen kooperativ eingegliedert werden.“ Tatsache ist aber auch, daß die Bremer Landesregierung sich bezogen auf die Sekundarstufe noch nicht festgelegt hat: Kooperation kostet, da sie personalintensiv ist, Geld.

Da gibt es zwar eine wertvolle Immobilie im Zentrum, die man zu Geld machen will, um die Kooperation bezahlen zu können: Die Sonderschule Am Wandrahm, die nach den Plänen der Schulbehörde ja überflüssig wird – aber den Eltern ist dieses Haus der Spatz in der Hand. Ohne Garantien wollen sie den „Wandrahm“ nicht aufgeben. Zu groß ist ihre Furcht, den Erlös könnte irgendein städtischer Schuldenberg verschlingen.

Doch nicht nur Geldmangel behindert bundesweit die Durchsetzung integrativer Modelle. Auch aus der Politik bläst den Bildungsreformern, die die Hintertür der Integration benutzen, Gegenwind ins Gesicht. Besonders die Liberalen tun sich hervor bei der Revitalisierung des dreigliedrigen Bildungssystems und insbesondere bei der Forderung nach mehr Gymnasien. Und darüber hinaus streiten sich die Gelehrten um die reine Lehre der Integration.

Sein Ruf als „Integrationspapst“ ist mittlerweile bis nach Österreich gedrungen, wo die Bremer Schulversuche mit großem Interesse registriert werden: Professor Georg Feuser, Behindertenpädagoge an der Uni Bremen, hat den Schulversuch Integration in der Hansestadt wissenschaftlich begleitet und maßgeblich unterstützt. Die Kooperation als Soft-Version der Integration lehnt er rundweg ab: Sie sei eine „Zwischenform, weil die Politik die Integration nicht durchsetzen will“ – aus Angst vor der durch die Anwesenheit der Behinderten notwendigen Schulreform. Tatsächlich sprach in den späten Achtzigern der damalige Bildungssenator Thomas Franke in diesem Zusammenhang sorgenvoll von „Revolution“.

Genau diese „Revolution“ will Feuser, der findet, in einer Schule, wo die Lehrer und die Verhältnisse bestimmen, ob Mathematik und Englisch kooperativ oder getrennt unterrichtet würden, wäre die Gefahr besonders groß, daß man die Behinderten schließlich nur noch zum Singen, Sport und Morgenkreis einlädt. Da brauchen nur die Rahmenbedingungen schlechter zu werden.

In der Klasse 6 in der Regensburger Straßen dagegen geht im Augenblick noch die Tendenz dahin, alle Fächer kooperativ zu unterrichten, selbst Mathematik und Erdkunde. Doch für heute ist erst mal Schulschluß nach der sechsten Stunde. Die Kinder sausen davon, die meisten haben es nicht weit. Nur die Behinderten haben oft über eine Stunde Anfahrt zur Schule. Es gibt halt nur wenig geistig Behinderte in Bremen. Und bis heute nur eine Schule, auf der sie auch nach der Grundschule zusammen mit ihren nichtbehinderten Freunden lernen können. Ob das in der nächsten, der siebten Klasse so weitergeht, ist mehr als zweifelhaft. Burkhard Straßmann