: Tiefschlaf aus heiterem Himmel
Narkolepsie-Kranke leiden an plötzlichen Schlummerattacken / Das Schlaflabor im Rudolf-Virchow-Krankenhaus bietet Hilfe und Beratung ■ Von Julia Naumann
An manchen Tagen ist es besonders schlimm. In geselliger Runde, wenn sie lacht und sich freut, passiert es ihr immer wieder. Oder auch im Restaurant, wenn sie gerade einen Salat ißt. Innerhalb von einigen Sekunden schläft Iris Kalsow ein – der gerade begonnene Satz wird abrupt abgebrochen, der Bissen, den sie herunterschlucken wollte, fällt ihr aus dem Mund. Oft dauert es nur wenige Minuten, bis die 34jährige aus dem Tiefschlaf wieder aufwacht. „Danach bin ich fit und munter bis zum nächsten Mal“, sagt sie.
Iris Kalsow ist nicht etwa eine Frau, die notorisch die Nächte durchmacht und deshalb am nächsten Tag am Schreibtisch zusammenklappt. Vielmehr leidet sie an einer Krankheit, die in der Bevölkerung und auch bei vielen ÄrztInnen noch weitgehend unbekannt ist: Narkolepsie, auch Schlafkrankheit oder Schlummersucht genannt. Typische Symptome sind plötzliche Schlafattacken, Erschlaffen der Gesichtsmuskeln und der Knie bei starken Gemütsbewegungen wie Freude, außerdem starke nächtliche Halluzinationen.
„Ärzte haben mich als Simulantin abgestempelt“
Die Potsdamerin, die ihre ersten Schlafattacken im Alter von 16 Jahren erlitt, ist mehr als neun Jahre lang von einer ÄrztIn zur nächsten gerannt. „Die haben mich teilweise als Simulantin oder arbeitsscheu abgestempelt“, sagt sie rückblickend. Erst in der Universitätsklinik Jena diagnostizierten Ärzte Narkolepsie – eine Funktionsstörung der Schlaf- Wach-Regulierung im Hirn. Auch in Berlin hat die Sachbearbeiterin Hilfe gefunden. Im vor einem Jahr eröffneten „Schlaflabor“ des Rudolf-Virchow-Krankenhauses hat Iris Kalsow zwei Nächte lang ihren Schlaf „ableiten“ lassen. Mit Hilfe zahlreicher Elektroden am Körper und Überwachungsmonitoren konnten die ÄrztInnen am nächsten Morgen jede Sekunde des Schlafes rekapitulieren. Die ÄrztInnen erarbeiteten ein Ernährungsprogramm und boten Iris Kalsow psychologische Hilfe an.
Daß Narkolepsie im Schlaflabor diagnostiziert wird, ist allerdings sehr selten: „Die meisten der PatientInnen, die zu uns kommen, haben krampfartige Beinbewegungen, wachen dadurch immer wieder auf und sind deshalb am nächsten Morgen unausgeschlafen“, erzählt die Psychologin Johanna Wilde-Frenz. Solche vergleichsweise harmlosen Schlafstörungen können die Ärzte lindern, indem sie den Patienten Magnesium verschreiben.
Iris Kalsows Krankheit dagegen ist chronisch – sie bleibt lebenslang bestehen und ist bisher nicht heilbar. Starke Aufputschmittel können die Schlummerattacken zwar verzögern, aber nicht aufhalten. „Um mit der Narkolepsie besser leben zu können, gehe ich offensiv mit meiner Krankheit um“, erzählt sie. Regelmäßig alle vier Stunden bekommt sie eine Schlafattacke – und hat sich darauf bestens eingerichtet. „Wenn ich bei der Arbeit merke, daß ich müde werde, lege ich mich auf meinen im Büro aufgestellten Liegestuhl und schlafe rund fünfzehn Minuten“, beschreibt die sehr impulsive Frau ihren Tagesablauf. Ihre KollegInnen akzeptierten das: „Aber was sie im Inneren denken, weiß ich nicht genau.“ So litten viele Narkolepsie- Kranke mehr unter der Reaktion ihrer Umwelt als unter den körperlichen Symptomen der Krankheit. Ein Doppelleben zu führen sei oftmals der einzige Ausweg: „Ich kenne eine Patientin, die in der Mittagspause immer ihre Arbeitsstelle verläßt und sich in ihr Auto legt, um dort unbemerkt zu schlafen.“
Kino und Theater sind für Narkolepsie-Kranke tabu
Am Abend ins Kino oder ins Theater zu gehen – für Narkolepsie- Kranke ein Wunschtraum, denn die passive und monotone Situation als Zuschauer würden sie nicht ertragen und sofort einschlafen. „Ich muß den Tag ganz genau planen, sonst verliere ich die Kontrolle“, sagt Iris Kalsow, die seit Jahren medikamentenfrei lebt und sich als „nicht allzu schweren Fall“ bezeichnet. Wenn sie dann trotzdem mal wieder mit offenen Augen am Tisch einschläft und sich ihre Gesichtszüge verzerren, dann ist es dank der intensiven Auseinandersetzung mit der Krankheit nicht immer ganz so schlimm für Iris Kalsow. „Schließlich soll Churchill auch Narkolepsie gehabt haben, und der hat sein Leben gut gemeistert“, sagt sie lächelnd.
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