Wenig Kreatives

■ Bill Milkowski über die neuen Konservativen im Jazz

taz: Wie lesen Sie das diesjährige JazzFest-Programm?

Milkowski: Mit der Carnegie Hall Jazz Band wird jener konservative Trend dokumentiert, der die heutige amerikanische Jazzszene dominiert. Große Improvisatoren wie Steve Lacy (am 31.10. in der Philharmonie; d. Red.) repräsentieren die Kunst des freien Ausdrucks, und mit Butch Morris kommt ein Markenzeichen der experimentellen Szene nach Berlin. Mir fällt vor allem die Vielschichtigkeit des JazzFest-Programms auf, in Amerika haben sich Jazzfestivals während der vergangenen 40 Jahre irgendwie selbst überlebt. Keiner geht heute mehr zu einem Jazzfestival, um etwas musikalisch Neues zu erleben.

Können Sie erläutern, was Sie als konservativen Trend bezeichnen?

Wynton Marsalis und Stanley Crouch, die beide durch ihre Tätigkeit für das Lincoln Center auch eine nicht zu unterschätzende Verantwortung tragen, lassen heute keine Gelegenheit aus, dem Jazz der vergangenen 25 Jahre jegliche Legitimation abzusprechen. Und die Vehemenz, mit der sie gegen Albert Ayler, Don Cherry oder Lester Bowie wettern, verdeutlicht, daß sie diese Auseinandersetzung bewußt provoziert haben. Hierbei geht es um den Abgesang auf den New Jazz.

Jazz in den Neunzigern hat vor allem Marktkriterien zu genügen. Die europäischen Plattenfirmen dokumentieren heute eher die innovativen Entwicklungen der amerikanischen Szene, während die amerikanischen längst nur noch Produkte schaffen. Das Blue Note-Label dokumentierte einst künstlerische Wachstumsprozesse auf Vinyl, bevor es zu Capitol/EMI gehörte: wenn Thelonious Monk oder Don Cherry heute die Szene betreten würden, bekämen sie dort keinen Plattenvertrag. JazzHipHop ist ein gutes Beispiel für diese Marktstrategie, Kreatives ist dort kaum zu erwarten.

Dennoch scheint die Avantgarde doch nicht völlig am Ende zu sein...

Innovative Musiker wie Henry Threadgill, die unabhängig von den Bedürfnissen des Marktes operieren, werden heute von Rechnerprogrammen aus den Katalogen der Plattenfirmen gekippt, weil die Verkaufszahlen nicht stimmen. So erging es Threadgill bei BMG – und Steve Lacy auch. Zwar eröffnen hin und wieder auch neue Läden, in denen radikale Bands auf der John Zorn-Elliott Sharp- Schiene fahren, nicht nur in New York, auch in Birmingham, Alabama; der Slide-Gitarrist Dave Tronzo oder der Tubist Marcus Rojas, die ich derzeit zu den bedeutendsten Originalen der Szene zähle, haben jedoch keine wirkliche Chance im heutigen Amerika.

Das Gespräch führte Christian Broecking