: Kobra, übernehmen Sie!
Rot-Weiß Essen – MSV Duisburg 4:2 / Gefeierte Heimkehr einer Giftschlange im Pokal-Achtelfinale, wie für die Pokalgesetzte inszeniert ■ Aus Essen Bernd Müllender
„Ich liebe euch alle“, soll er, gleich nach dem Schlußpfiff, freudetrunken gesagt haben. Verbürgt ist indes der Satz: „Ich fühle mich wirklich überirdisch.“ Kein Wunder: Jürgen Wegmann (29), der fast eineinhalb Jahre kaum gespielt hatte, zuletzt ausgerechnet im Kader des Gegners MSV stand und dort als unbrauchbar ausgemustert wurde, der seit Juli arbeitslos war, hatte erst am Dienstag morgen einen Vertrag in Essen unterschrieben und keine 36 Stunden später, gerade eingewechselt, das entscheidende Tor gemacht zum 4:2, fünf Minuten vor Schluß. Für seinen Heimatverein Rot-Weiß, bei dem er die Profikarriere 1981 begann, als 17jähriger mit Sondergenehmigung des DFB und einem Tor in der dritten Minute im ersten Einsatz. Und jetzt dieses Comeback bei RWE nach zwölf Jahren: Da kann schon Freude aufkommen.
Jürgen Wegmanns Weisheiten aus einer Bundesliga-Odyssee von Essen über Dortmund, Schalke, Bayern München, Duisburg zurück zum RWE sind längst Legende fürs Fußballgeschichtsbuch: „Vom Feeling her habe ich ein gutes Gefühl“ ist sein Merksatz für des Kickers euphorische Momente nach gelungenem Torschuß; wenn's mal nicht so läuft, weiß Wegmann: „Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech hinzu.“ Und weil er sich einmal für „giftiger als die giftigste Schlange“ erklärte, hatte er bald seinen Spitznamen Kobra weg.
Wegmanns züngelnde Metaphorik kontrastiert mit seinem Image, dem des typisch strohdummen Fußballspielers. Sicher, Schuljunge Kobra zeigte im Unterricht wenig Biß und verließ die Schule nach der vierten Klasse. Er ist ein naiver wie herzensguter Kerl, der sich Formulare von anderen ausfüllen lassen muß, weil er bis heute besser den Ball reinmachen kann als lesen und schreiben. In Dortmund war Frank Mill Wegmanns diesbezüglicher Ghostwriter.
Jürgen Wegmann („Ich hab' mit soviele Handicaps im Leben leben müssen“) ist und war selbst in Mannschaftskreisen immer ein Außenseiter, über den sich die Mitspieler, die auf eine erfolgreichere Hauptschulkarriere verweisen konnten, stetig lustig machen. Gern schießt er entscheidende Tore, fand aber nie Akzeptanz, Dankbarkeit über den Torschrei hinaus oder gar Geborgenheit und Nestwärme. Lieber wurde er hinterrücks verlacht und in einer Kasperrolle mißbraucht. Unter Fachjournalisten, deren Spielberichte bisweilen immerhin bis an das Niveau von Realschulaufsätzen heranreichen, gilt der Spott Wegmanns IQ, der kaum über Zimmertemperatur läge. Und Funktionäre, wie beispielsweise Dortmunds Manager Michael Meier, wünschten schonmal: „Am liebsten würde ich den Wegmann persönlich mit der Schubkarre nach Holland über die Grenze fahren.“ Grund: Die Kobra war als unverkäuflicher Bankdrücker zum Sozialfall geworden, wollte aber bleiben, weil er bei Borussia ein bißchen mehr akzeptiert wurde als anderswo. Und weil er es doch war, der der Borussia durch sein Tor 1987 im Relegationsspiel gegen Fortuna Köln Sekunden vor Schluß überhaupt die Bundesligazugehörigkeit erhalten hatte.
Wegmanns triumphale Rückkehr vom Mittwoch abend war das Sahnehäubchen auf ein „absolut begeisterndes Pokalspiel“, wie der zerknirschte MSV-Coach Ewald Lienen nachher befand. Die Pokalgesetze hatten wieder gnadenlos gegriffen: Ein unbewußt überheblicher Bundesligasechste, der mit dem 0:2 zur Pause bestens bedient war, ein leidenschaftlicher Zweitligist RWE, über den dessen Trainer Jürgen Röber befand: „Wir haben für unsere Verhältnisse sensationell gespielt.“ Und eine 2. Halbzeit voller Dramatik pur, mit Torchancen beidseitig fast im Minutentakt.
Endlich, fast eine Stunde nach dem Abpfiff, hatte der Reporter von Radio Essen seinem Interviewgast erfolgreich aufgelauert und „unseren echten Borbecker Jungen“ zum Live-Interview vors Mikrophon geschleppt. Augenblicklich unterbrach der Sender die Musik. Und der Pokalheld sprach: Ja, den entscheidenden Ball habe er „taktisch sehr klug reingetan“, was ihn selber aber nicht verwunderte, denn schon beim Training habe er „zuletzt so tolle Sachen gemacht“, daß ihm der Trainer „internationales Niveau bescheinigt“ hatte, „wirklich wahr, doch, echt“. Und wie er das alles schaffe? Wegmann: „Ich habe meine ganze geistige Kraft für dieses eine Spiel gegeben.“
Und weil es Fußball ist, reichte das vollkommen.
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