Handgranaten für „proletarischen“ Kiez

In Kreuzberg kämpft eine Gruppe namens „Klasse gegen Klasse“ mit Drohbriefen und Sprengsätzen gegen die „soziale Durchmischung proletarischer Stadtteile“  ■ Aus Kreuzberg Sans Culottes

Eindeutiger könnte die Drohung nicht sein: „Der einzige Platz für Mittelklasse-Schmarotzer liegt zwischen Mündungsfeuer und Einschuß.“ Die das schreiben, nennen sich „Klasse gegen Klasse“, wollen in Berlin-Kreuzberg das „proletarische terrain“ gegen die „Protagonisten der sozialen Durchmischung“ verteidigen und verschickten im Juni dieses Jahres mehrere Drohbriefe gegen LadeninhaberInnen der Kreuzberger Oranienstraße. In dem Schreiben, mit dem Boutiquen und sonstige „Yuppieläden“, aber auch MieterInnen von Dachgeschoßwohnungen aufgefordert wurden, Kreuzberg zu verlassen, heißt es brachial: „Korrupte Krämerseelen wie ihr gehört zu dem Potential von Mittelklasse-Schmeissfliegen, die sich wie die Schweinepest im Kreuzberger Kiez ausbreiten.“

Mittlerweile freilich ist aus den Drohungen bitterer Ernst geworden: In der Nacht zum 18. Oktober explodierte im Kreuzberger Nobellokal „Auerbach“, dessen teuerstes Gericht um 30 Mark kostet, eine Handgranate. Menschen wurden nicht verletzt, der Sachschaden wird auf 100.000 Mark geschätzt. Der Vorwurf der selbsternannten Preiswächter: Yuppielokale wie das „Auerbach“ zögen eine Mittelschicht an, die für ein Essen in einem „ambiente sauvage“ so viel Geld ausgäben, wie „wir für das Essen eines ganzen Monats“. Daß damit ein für allemal Schluß sein soll, daran lassen die Saubermänner keinen Zweifel: Wenige Tage nach dem Anschlag auf das „Auerbach“ zündete bei einem italienischen Weinladen in der Skalitzer Straße ein Sprengsatz. O-Ton „Klasse gegen Klasse“: „verschwindet bis zum 31.1.94! ansonsten: plünderung oder finales ende wie beim auerbach.“

Nach den jüngsten Ereignissen beschäftigt nicht nur die Betroffenen und die Berliner Polizei, sondern auch die Kreuzberger Szene, wer sich hinter den ominösen Klassenkampfparolen verbirgt. Keiner weiß, wie stark die Gruppe tatsächlich ist. In ihrer Hilflosigkeit gegenüber der „kontraproduktiven Politik“ vermuten einige sogar den Staatsschutz hinter den Berufsproleten. Die autonome Szene jedenfalls, ob der „Offensive“ von „Klasse gegen Klasse“ irritiert, wird nicht müde, darauf hinzuweisen, daß nicht der Mittelstand, sondern die Berliner Baumafia, Wohnungsspekulanten und die Drogendealer der Hauptfeind seien. Doch die Kreuzberger Avantgarde ficht's nicht an, schließlich komme es nun darauf an, „daß wir als bewußte Teile unserer Klasse endlich anfangen, die gemeinsamen Interessen aller Teile unserer Klasse ... punktuell erfolgreich durchzukämpfen“. Der Klassengegner wird dabei nicht nur beim Mittelstand („Protagonisten der sozialen Durchmischung proletarischer Stadtteile und Rufer nach Ruhe und Ordnung“) verortet, sondern man ist sich auch sicher, daß die Bekämpfung von Kleingewerbetreibenden und sonstigen „Schmarotzern“ in Kreuzberg eine stärkere Verunsicherung hervorrufe, als es „allein durch direkte Aktionen gegen die Kapitalisten“ möglich wäre.

Revolutionäres Imponiergehabe wildgewordener „Mittelstandskinder“ oder tatsächlich Ausdruck eines politischen Paradigmenwechsels? Als nach den Kreuzberger Mai-Unruhen von 1987 und mitten in den Versuch der autonomen Szene, durch Demonstrationen und „Kiezpalaver“ auf die schleichende Umstrukturierung Kreuzbergs aufmerksam zu machen, ein Fäkalienanschlag auf ein Kreuzberger Nobelrestaurant verübt wurde, führte dies nicht nur zu heftigen Auseinandersetzungen, sondern auch zur unausgesprochenen Tabuisierung einer derartigen Säuberungspolitik. Bis schließlich, vier Jahre später, im Oktober 1991, ein weiterer Fäkalienanschlag verübt wurde und zugleich der erste auf das „Auerbach“, zu dem sich „Klasse gegen Klasse“ später bekannte. Anders als 1987 gibt es heute freilich weder eine „Bewegung“ noch eine Debatte um Kiezpolitik von unten.

Kreuzberg steht vor der paradoxen Situation, daß der Bezirk durch Mauerfall und Citylage einerseits im Brennpunkt sozialer Umstrukturierung steht, die KreuzbergerInnen selbst aber nach den politischen Grabenkämpfen der letzten Jahre der Auseinandersetzungen müde sind. Die Folge: Nicht wenige sind der Ansicht, daß in Kreuzberg, anders als etwa im Ostberliner Prenzlauer Berg, eine Politik mit den Betroffenen nicht mehr möglich sei und statt dessen allein die Verunsicherung der „Kriegsgewinnler“ noch Sinn mache.

Und während die eher undogmatische autonome Szene noch immer nach neuen Antworten auf die veränderte Situation sucht, haben die übriggebliebenen marxistisch-leninistischen und kommunistischen Gruppen damit begonnen, aus ihrer Isolierung eine Waffe zu machen. „Dabei sind“, kritisierte unlängst ein Autonomer in der Szenezeitschrift Interim, „die in den Auseinandersetzungen ... begrabenen Fragen und Reflexe genausowenig ein Zufall, wie es ein Zufall ist, daß Gruppen mit einem sorgsam ausgewählten faschistischen und antisemitischen Sprachgebrauch wie z.B. ,Klasse gegen Klasse‘ glauben, sich als Linke verstehen zu können.“

Daß die Welt auch in Kreuzberg nicht mehr so einfach ist, wie sie einmal schien, wird zwar nur noch von den wenigsten bestritten, doch nun ist man zudem mit dem Problem konfrontiert, wie man sich gegen die wildgewordenen revolutionären Subjekte, die selbst gegen Kritik aus den einst eigenen Reihen immun sind, schützen soll. „Das Neue ist“, sagt ein langjähriger Kreuzberger, „daß die nun die Definitionsmacht darüber erkämpfen wollen, wer in Kreuzberg leben darf und wer nicht.“ Zwar machen die Betroffenen wie das „Auerbach“ und die Läden der Oranienstraße, unterstützt von Teilen der autonomen Szene, nun mobil gegen die willkürliche Gewalt, „doch solange es im Kiez selbst“, so der Anwohner, „keine breite Debatte um Strategien gegen die tatsächliche Umstrukturierung in Kreuzberg gibt, können sich die Einzelkämpfer von ,Klasse gegen Klasse‘ noch lange auf der Seite des Guten im Kampf gegen das Böse wähnen.“