: Von der Lust am Piercing
Neu in Berlin: Am Donnerstag beginnt das erste schwul-lesbische Filmfestival jenseits der Berlinale ■ Von Micha Schulze
Hand aufs Herz: Wer kennt einen schwulen Lederkerl ohne Schnauzer? Welcher Lesbe stockt nicht der Atem, wenn sie im Fernsehen einen Western mit K.D. Lang anschaut? Und welcher Schwule hat sich nicht schon mal heißes Kerzenwachs auf die Brustwarzen tröpfeln lassen? Unbestritten, die homosexuelle Minderheit hat so ihre kleinen Moden, Rituale, Kulte und Kultfiguren, die sie beständig hegt und pflegt. Der größte Homokult muß allerdings der Narzißmus sein: Wie sonst läßt es sich erklären, daß beim internationalen schwul-lesbischen Filmfestival fast ausschließlich Streifen zum Thema „Kulte und Rituale“ auf die Leinwand kommen?!
Am Donnerstag geht's los, vier Tage lang stehen die beiden Kinos „Eiszeit“ und „Checkpoint“ im Zeichen des Homofilms der neunziger Jahre. Etwas überraschend kommt das Festival schon. Zum einen gibt es die „Berlinale“, die alljährlich eine Vielzahl schwul-lesbischer Streifen an die Spree bringt, zum anderen ist Berlin auch sonst mit Homofilmen beileibe nicht unterversorgt – gleich nach dem Festival zeigt Wieland Speck im Babylon-Mitte schwule Kurzfilme aus zehn Jahren. Doch die VeranstalterInnen vom „Lesbischen und Schwulen Büro Film“ und „Sapphos Allerotischer Film Edition“ (S.A.F.E.) verweisen auf den vorherrschenden Mainstream à la „Hochzeitsbankett“, dem es etwas entgegenzusetzen gelte, sowie auf die zahlreichen Produktionen, die aus verschiedensten Gründen durch das Raster der „Berlinale“ fallen. Und außerdem kann ja mittlerweile jede US-amerikanische Kleinstadt mit einem eigenen Homofilmfestival aufwarten...
Zum Programm gehören sechs Kurzfilmreihen und 18 Spielfilme, davon zehn Berliner Premieren. Das Festivalprädikat „international“ ist freilich etwas hochgegriffen. Die meisten Filme stammen aus den USA und Großbritannien, aus Osteuropa ist kein einziger Streifen dabei. Dahinter steckt nicht böse Absicht, sondern das äußerst schmale Budget. Trotz eines Zuschusses der Senatskulturverwaltung in Höhe von 20.000 Mark blieb den VeranstalterInnen fürs Untertiteln ausländischer Produktionen weder Zeit noch Geld. Und wer guckt sich schon einen tschechischen Originalfilm an?
Daß dennoch „exotische“ Filme ins Programm fanden, liegt an den guten Kontakten des Filmbüros und den Bemühungen der Frauen von S.A.F.E. Zu den besonderen Entdeckungen gehört „Lunatic Theatre“ des japanischen Regisseurs Hisayasu Sato. Ein schwuler Porno aus dem Jahr 1989, der eigentlich gar kein Porno ist – nach dem japanischen Gesetz dürfen keine Schwänze gezeigt werden. Um so mehr beweist dieser extrem erotische Film einen enormen Einfallsreichtum des Regisseurs. Und hinterher vergeht jedem Schwulen für mehrere Wochen die Lust auf einen Porno aus US-Massenproduktion.
Überhaupt geht es im schwulen Film wieder um den Hauptkult des homosexuellen Mannes: Sex. Die Filmemacher scheinen den Aids- Schock überwunden zu haben, wenngleich ihre neuen Produktionen die Orgiastizität des deutschen Kultstreifens „Taxi zum Klo“ nicht mehr erreichen. Sex wird wortwörtlich in einem anderen Licht gesehen: In ihrem Video „An/ Aesthetic“ filmten die Briten James Barret und Robin Forster zwei Männer mit einer Röntgenkamera beim Blasen. Nackt bis auf die Knochen, erzeugen die farbigen Bilder der beiden Männer eine Mischung aus Geilheit und Grusel. Nicht zufällig zieren die umschlungenen Liebes-Skelette auch Plakat und Programmheft des Festivals – allerdings in knutschender Pose, um die Lesben nicht abzuschrecken.
Von Sara Whitelys fünfminütiger Dokumentation „Rapture“ wird erzählt, daß regelmäßig die Hälfte der ZuschauerInnen entsetzt den Kinosaal verläßt. Dabei widmet sich ihr Film nur dem „Piercing“, der neuen Homomode, sich alle möglichen Ringe und Ketten durch Brustwarzen, Schamlippen oder Vorhaut zu pieksen. Überhaupt scheinen lesbische Filmemacherinnen den Sex als ihr Thema entdeckt zu haben: Annette Kennerlys Kurzfilm „Sex, Lies, Religion“ ist eine Orgie in sechs Minuten. Sehr erotische Szenen finden sich auch in „Joe Joe“ von Cecilia Dougherty und Leslie Singer. Ein Muß für alle, die „Prick up your ears“ gesehen haben: Die (wahre) Geschichte des erfolgreichen Londoner Theaterautors Joe Orton wird in die Lesbenszene Kaliforniens verlegt. Aus der typischen Männer- wird so eine bizarre Frauengeschichte.
Wenn es um Kulte und Rituale geht, darf S/M nicht fehlen. Aus den zahlreichen Sadomaso-Filmen des Programms fällt „Noir et Blanc“ der französischen Regisseurin Claire Devers heraus. Die deutsche Kinopremiere handelt von einer Sportstudio-Beziehung zwischen dem drögen Steuerprüfer Antoine und dem schwarzen Masseur Dominique, der Antoine immer härter durchknetet – bis er ihm einmal den Arm bricht. „Noir et Blanc“ beeindruckt durch seine brutalen, nüchternen Bilder; die Moral der Geschichte ist dagegen etwas plump: Flucht in den Schmerz wegen der Langeweile der bürgerlichen Existenz.
Glaubt man dem Zelluloid, sind die lesbischen Rituale und Gewohnheiten vielseitiger als die der Schwulen, sie scheinen auch den Frauen mehr Kopfzerbrechen zu bereiten. So untersucht Susan Ardill in ihrem Kurzfilm „Stand on your Man“ ganz ernsthaft das Country- und Westernfieber in der Londoner Lesbenszene. Doch auf ihre Frage „What make lesbians so crazy?“ bekommt sie keine hieb- und sattelfesten Anworten. Mehr Humor beweist „Queer across Canada“, eine Art pädogischer Lehrfilm, der Lesben erklärt, warum sie nicht „gay“ oder „queer“, sondern „dike“ sein sollten. Beim Video „Tempted“ kann frau dann dahinschmelzen. Es ist die kitschige Story zweier Lesben zu Pferde (eine davon Mathilde Santing!), die sich erst tiefe Blicke zuwerfen, dann eine Verfolgungsjagd aufnehmen und sich zu guter Letzt in die Arme fallen. Zu den komischsten Filmen des Festivals gehört das Channel-4-Video „Suddenly last Summer“. Claire Beavan geht dem „Martina-Faktor“ im Frauentennis auf den Grund, indem sie mit typisch britischem Humor lesbische Navratilova-Fans veralbert.
Auf ihre Kosten beim Festival sollen auch die schwulen Pädos kommen: In „For a last Soldier“ erzählt der Holländer Roeland Kerbosch die Liebesgeschichte zwischen dem 12jährigen Jeroen und dem kanadischen Soldaten Walt am Ende des Zweiten Weltkriegs. Obwohl der Regisseur mehrfach versicherte, daß der Jeroen-Darsteller bei den Dreharbeiten schon 14 war und damit nicht gegen niederländisches Gesetz verstieß, gab es mehrfach nach Vorstellungen heftige Diskussionen – die Pädo- Debatte gehört bekanntlich zu den größten lesbisch-schwulen Ritualen.
Auf dem Berliner Filmfestival sind Diskussionen sogar grundsätzlich erwünscht, das belegen zwei ins Programm integrierte Workshops: Am Donnerstag nachmittag berichten Mitglieder des Stricher- und Callboyprojekts „quer/strich“ über den Alltag beim Anschaffen, und am Freitag zeigt die Multimediatruppe „Böse Mösen“ ihren Film „Keine Panik“, anschließend gibt der Verein „Nutten & Nüttchen“ Einblicke in die lesbische Sexarbeit. Natürlich darf bei einem Filmfestival auch eine Party nicht fehlen – irgendwie müssen die Auslagen der VeranstalterInnen ja wieder reinkommen. Sie steigt am Samstag um 24 Uhr im Restaurant „Moskau“ in der Karl- Marx-Allee gegenüber dem Kino „International“.
Ein Wagnis bleibt das schwul- lesbische Filmfestival dennoch. Erst am Sonntag wissen die OrganisatorInnen, ob sie genügend Publikum anlocken konnten oder ob das gewöhnliche Angebot an Homofilmen in Berlin ausreichend ist. Von der Resonanz wollen sie auch abhängig machen, ob sie im nächsten Jahr erneut ein lesbisch-schwules Filmfest auf die Beine stellen. Die Zeichen stehen eher ungünstig, denn eine Garantie auf neuerliche Senatszuschüsse gibt es nicht, und kaum ein Filmfestival hat sich bislang neben der „Berlinale“ etablieren können. Und zu einem bloßen Ritual sollte ein Homofilmfest in Berlin ja auch nicht verkommen.
Das Filmfestival findet vom 4. bis 7. November in den Kinos „Checkpoint“ (Leipziger Straße 55, Mitte) und „Eiszeit“ (Zeughofstraße 20, Kreuzberg) statt. Programme liegen dort aus. Die Einzelkarte kostet 8 Mark. Bis Mittwoch ist in beiden Kinos eine begrenzte Zahl von Dauerausweisen für 100 Mark zu haben.
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