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Auf der Suche nach Normalität

Auf dem Rustaweli flaniert die Jugend Tbilissis – für den Kampf gegen Gamsachurdia interessiert sich in Georgiens Hauptstadt fast niemand mehr  ■ Von Klaus-Helge Donath

„Keine Blüten mitgebracht!“ Sosso schüttelt enttäuscht den Kopf. „'ne Menge Geld läßt sich damit machen.“ Sossos Geschäfte laufen schlecht. Bei unserem letzten Treffen bat er um diese „kleine Gefälligkeit“. Die Kriegswirren haben seinen Machenschaften an der Demarkationslinie zur Illegalität die Grundlage entzogen. Nur die Gewohnheit treibt ihn täglich noch ins Stehcafé. Redend, rauchend, Kaffee schlürfend, wartet er seit Jahren in der Ungemütlichkeit des Hotelfoyers auf Kundschaft. „Wir führen kein Leben mehr, wie soll da das Business stimmen?!“ raunt er. Die Logik trifft für Kriegsökonomien eigentlich nicht zu. In Sossos Fall ist etwas dran. Devisenschieber haben es schwer. Die Nachfrage nach Dollars steigt ständig, doch die internationale Kundschaft, die diese ins Land bringen soll, bleibt immer mehr aus. Da helfen nur noch falsche Fuffziger und Farbkopierer. „Bei uns merkt das bestenfalls die Zentralbank.“

Im Foyer, wo früher einmal Besserbetuchte Silberschmuck und kaukasisches Kunsthandwerk erstanden, schlagen jetzt Hunderte von Flüchtlingen aus der Separatistenrepublik Abchasien die Zeit tot. Sie sind zur Untätigkeit verdammt. Arbeit gibt es keine in Tbilissi. Männer in Tarnanzügen und improvisierten Uniformen stehen in Grüppchen zusammen. Überschwenglich begrüßen sie Neuankömmlinge mit beidwangigen Küssen. Als hätte man sich monatelang nicht gesehen. Sossos Stimme wird leiser: „Alles Flüchtlinge. Tagsüber hängen sie rum, nachts gehen sie auf Raubzug.“ Er mag die Flüchtlinge nicht. Und dann hebt er zu einem Plädoyer für Gesetz und Ordnung an. „Kriminalität, wo du hinguckst, man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher.“

Vor dem Brotgeschäft 62 in Tbilissis hügeliger alter Vorstadt hält ein Lieferwagen. Sekunden, und ein Knäuel von Menschen umringt den LKW. Sie gestikulieren wild und schreien durcheinander. Der Fahrer hat Mühe, die Ladeluke zu öffnen. Sie alle wollen Brot – sofort. Nur einige bilden an der Hauswand eine ordentliche Schlange. Der Lieferant schafft es nicht bis zum Laden. Hände grapschen in das Traggestell, dessen offene Seite er an seinen Bauch drückt, so gut es geht. Zwecklos, immer wieder ergattert jemand einen Laib. Mehrere Hände zerren an ihm gleichzeitig. Der Sieger hastet davon, als müsse er eine Beute in Sicherheit bringen. Weinend befreit sich eine ältere Frau aus dem wogenden Knäuel. Panik steht in ihrem Gesicht. Schluchzend stürzt sie auf den Fahrer: „Geben Sie mir ein Brot!“ Nach langem Zögern rückt er eins raus. Die geduldig Wartenden drängt die Menge weiter an die Häuserwand. Auch nach einer Stunde haben sie nicht einmal Aussicht auf ein Brot.

Vor allen Backstuben Tbilissis wiederholt sich das Bild. Noch herrscht kein Mangel an Getreide. Die Menschen hungern nicht. Doch Brot ist in Georgien nicht nur Nahrungsmittel. Es ist Barometer des Wohlergehens. Nach einem zünftigen georgischen Essen bleiben Berge von Fladen auf dem Tisch zurück – in besseren Zeiten.

In Tbilissi flanieren die Menschen wie in Friedenszeiten über den Rustaweli, den Boulevard der Hauptstadt. Die Fensterauslagen sind bescheiden. Aus der Not wird eine Tugend. Leere Bier- und Coladosen auf weißem Sand simulieren einen entspannten Strandurlaub. Soeben hat Georgien den Krieg gegen Abchasien verloren. Suchumi, die kaukasische Schwarzmeerperle, fiel in die Hände des Gegners. Eine Viertelmillion Georgier hat die Flucht angetreten, zu Fuß durch die Berge des Kaukasus. Wer Glück hatte, wurde per Schiff evakuiert. Doch auf dem Rustaweli sind die Cafés gefüllt, die Jugend präsentiert sich, ißt Tschepureki, gefüllte Teigtaschen, und lutscht Eis. Sie lacht, liebt und tollt. Sie scheint unbeschwert.

Vor dem Fernsprecher nach Kutaissi im Hauptpostamt warten rund um die Uhr unzählige Menschen. Kutaissi liegt in der Provinz Imeretien im Westen des Landes. Nach dem Fall der abchasischen Hauptstadt Suchumi mußte Georgien nicht lange auf den nächsten Konflikt warten: Swiad Gamsachurdia kehrt mit seinen Anhängern und gedungenen Söldnern nach Georgien zurück. Im Winter 91 war der erste postsowjetische Präsident aus Tbilissi verjagt worden. Jetzt will er die Gunst der schwachen Stunde seines Landes nutzen. Seine Landsknechte stehen in Kutaissi und drohen mit dem Marsch auf die Hauptstadt. Widersprüchliche Meldungen über wechselhafte Erfolge der Kombattanten kursieren.

Doch in Tbilissi scheinen sie keinen mehr ernsthaft zu interessieren. Ihre Kräfte verzehren die Hauptstädter in einer gigantischen Anstrengung: der Illusion, eine Normalität zu leben. Wären da nicht die jungen Männer, die auf Krücken durch die Straßen humpeln, ohne Füße, ohne Beine. Ihre Gesichter sind stumpf.

Im Stabsquartier der Truppen des Innenministeriums beugt sich Kommandeur Wladimir Tschikowani über die Generalstabskarte auf dem ellenlangen Konferenztisch. Blaue Pfeile laufen in einer Zangenbewegung auf den Hafen Poti zu. Daneben Notizen: Panzer, Panzerspähwagen, Geschütze. Angaben, wem das Gerät gehört, fehlen. Poti war in der Hand der Swiadisten. Der Hafen aber lebenswichtig für die Georgier und nicht nur sie. Die russischen Truppen der Kaukasusarmee hängen ebenfalls an der Nachschubbasis am Schwarzen Meer. Tschikowani befehligt noch ganze tausend Mann. „Alle anderen sind in Abchasien gefallen“, sagt er mit müder Stimme. Er wirkt abgekämpft und gehetzt. Im Kampf gegen Gamsachurdia haben sich verschiedene bewaffnete Einheiten noch einmal zusammengerauft. Das Unwesen der Condottieri, der lokalen Kriegsherrn mit Privatarmeen, hat auch ein Eduard Schewardnadse nicht beseitigen können. Selbst Parteien halten ihre Anhänger unter Waffen. Als Zeichen der Versöhnung wertet Tschikowani, daß die Reitertruppe der Mchedrioni und auch Dschanturia ihre Hilfe im Kampf gegen Gamsachurdia zugesagt haben.

Denn Dschanturia, der eloquente Vorsitzende der National- Demokratischen Partei, hat gerade mit vier Ministern die Regierung Schewardnadse verlassen. Dschanturias Kritik an der Staatsführung fällt harsch aus. Noch vor fünf Monaten pries er den Ex-Außenminister der UdSSR als den einzigen Politiker, der Georgien aus der Krise führen könnte. Heute bezichtigt Dschanturia Schewardnadse diktatorischen Vorgehens. „Ist es nicht traurig, wenn du deinem Vorgänger immer ähnlicher wirst?“ fragt er und hat dabei Gamsachurdia im Auge. Zuerst habe Schewardnadse das Parlament für zwei Monate beurlaubt, dann durfte Dschanturia nicht im Fernsehen auftreten, und nun wurde das Erscheinen der Parteizeitung unterbunden.

Der Leiter des parlamentarischen Pressezentrums, Ramin Tschelidse – zur Zeit ein unbeirrter Schewardnadsemann –, leugnet jeglichen Eingriff in die Pressefreiheit. Und auch in der heruntergekommenen Redaktion der russischsprachigen Regierungszeitung Freies Georgien reagiert Chefredakteur Professor Apolon Silagadse nur mit einem Lächeln. Im hintersten Eck seiner Redakteursflucht sitzt er mit zwei seiner Redakteure. Eigentlich haben sie nichts zu tun. Denn das Sprachrohr ist heute nicht erschienen: Papiermangel. Zeitungen seien allerdings verboten worden. Kleinere, mit eindeutig nationalistischen und faschistischen Inhalten, hatte Tschelidse vorher eingeräumt.

Vor Dschanturias stattlichem Büro auf dem Rustaweli versucht sich eine Gruppe junger Männer die Zeit zu vertreiben. Waffen tragen sie nicht, zumindest nicht offen. Man sieht ihnen an, wie schwierig es für sie sein wird, sich wieder an den Frieden zu gewöhnen. Überall in Georgien trifft man auf sie. Jugendliche, fast noch Kinder, die der Krieg sozialisiert hat. Die Waffe in der Hand stattete sie mit einem Minimum an Sozialprestige aus und verschaffte ihnen eine Position weiter oben in der Hierarchie. Im bürgerlichen Leben würden sie weniger Anerkennung finden. Selbst wenn Georgien einmal Frieden finden sollte, stellen diese Heranwachsenden einen potentiellen Destabilisierungsfaktor dar. Gelernt haben sie nichts. Ihr Leben war Abenteuer.

Tschikowani, Kommandeur im Range eines Generalmajors, baut auf die Hilfe der Russen im Kampf gegen Gamsachurdia. Aber er gibt sich vorsichtig. Es muß eigenartig sein, für ihn, einen Mann in den Fünfzigern, der sein Leben lang in der Roten Armee gedient hat. „Die Russen haben nur zugesagt, die Transportlinien, die Verbindungsstraße und Eisenbahnlinie von Poti bis Tbilissi zu sichern.“ Er versteht das Zögern der Russen, die angeblich nur im Verbund mit Armeniern und Aseris handeln wollen. „Immerhin sind wir ein unabhängiger Staat, um einzugreifen, sind die juristischen Voraussetzungen nicht gegeben.“ Aber die Russen waren doch auch in Abchasien und kämpften dort gegen die georgische Armee? Wie Schewardnadse vertritt Tschikowani die These von den zwei Rußländern: das eine, das demokratische Jelzins, das andere, das reaktionäre und imperialistische, dessen Exponenten die Putschisten Chasbulatow und Ruzkoi waren.

Unterstützt worden seien die Abchasen aber auch von Ukrainern und Nordkaukasiern: „Sie sind billig zu haben nach dem Zerfall der Sowjetarmee. Eigenartig, nicht, ein Volk von hundertfünfzigtausend besiegt vier Millionen?“ fragt er. Früher hätten sie Schwierigkeiten gehabt, in Abchasien Busfahrer zu finden. Außerdem brauchten Abchasen als Minderheit in der Sowjetarmee keinen Wehrdienst zu leisten. „Wer hat das schwere Gerät bedient und die MiGs geflogen?“

Saba leidet keine Not. Als Kellner hat er noch sein Auskommen. Er mixt seine Drinks, Politik interessiert ihn nicht. Zwischen zwei Rußländern unterscheidet er nicht. Es sei müßig, entscheidend ist das Ergebnis. Russische Hilfe blieb aus, um Georgien zum Eintritt in die GUS zu bewegen. Die meisten Georgier, ob Nationalisten oder nicht, denken ähnlich.

Das Wasser im Becken des Springbrunnens vor dem Iweria- Hotel wird immer trüber. Der Kreislauf ist unterbrochen. Jeden Nachmittag treffen sich vor ihm die letzten Flüchtlinge aus Abchasien. Dato trägt an seinem abgewetzten Jackett ein schwarzes Stückchen Samt mit drei Fotografien, die Eltern und seine Frau. Alle kamen in Suchumi um. Nur ihm gelang die Flucht mit seinen beiden Kindern. Er ist bitter, will das Leid nicht an sich heranlassen: „Wofür das alles, wir hätten gleich in die GUS eintreten sollen, dann wäre uns viel erspart geblieben.“

Unterschwellig halten Schewardnadse viele vor, die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben. Eine Minderheit sieht in ihm nach wie vor einen Mann Moskaus, der in dessen Auftrag gehandelt hat. Auch nach dem Sieg über Gamsachurdia wird Georgien nicht zur Ruhe kommen. Die einzige Prognose, die die Verhältnisse zulassen. Die Fassaden des Parlaments werden seit Monaten renoviert. Die Arbeit kommt nicht voran. Schräg gegenüber, im einstmals feinsten Frisiersalon, herrscht Hochbetrieb. Der Figaro, ein Meister seines Faches, hängt den Tauchsieder in den Plastikeimer und fingert die Kabelbruchstelle zurecht. Aus dem Stapel Handtücher fördert er eine Spiegelscherbe hervor: „Ist's so genehm?“ Ein Kampf um die Normalität.

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