: Sechsmal verdrängt
■ Der 9. November und die Deutschen: Eine Dokumentation
Er ist wirklich kein Tag wie jeder andere. Sechsmal in den vergangenen 75 Jahren wurde an einem 9. November in Deutschland Geschichte geschrieben: 1918 rief der Sozialdemokrat Phillip Scheidemann an diesem Tag die erste deutsche Republik aus, behielt aber die wilhelminische Polizei, Justiz und Administration bei. 1923 putschten am 9. November Ludendorff und Hitler, wurden an der Münchner Felherrenhalle gestoppt und münzten die klägliche Niederlage später zum Sieg um. 1938 wüteten die Nazis mit den Pogromen der sogenannten „Reichskristallnacht“ gegen die Juden, und niemand hinderte sie daran. 1939 versuchte der Tischler Johann Georg Elser am Abend dieses Tages mit einer Zeitzünderbombe den Tyrannen-Mord an Hitler, scheiterte jedoch. 1967 schrieb man dieses Datum, als Studenten der Hamburger Universität mit der Parole „Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren“ professorale Rituale erschütterten – und danach die ganze vermuffte Republik. Am 9. November 1989 schließlich fiel die Mauer und mit ihr jenes andere Deutschland, das angetreten war, das bessere zu sein und zum Gegenteil degenerierte.
Alles Ereignisse mit weitreichenden Folgen für Deutschland und die Deutschen. Dennoch hat es den Anschein, als wollte man in diesem Land – ähnlich wie Hotels bei den Zimmernummern stillschweigend die Zahl „13“ überspringen – am liebsten auf den 8.November im Kalender gleich den 10. folgen lassen. Für dieses Phänomen gestörter deutscher Erinnerungsarbeit suchte der NDR- Autor Reinhard Kahl nach Erklärungen – in historischen Archiven, bei Zeitzeugen, in Gesprächen mit Historikern und Philosophen. Was er fand, sind Diagnosen eines nationalen Verdrängungs-Syndroms.
„Die Deutschen haben offenbar mit diesem Datum ihre persönlichen, ihre kollektiven Schwierigkeiten, Staat zu machen, auf eine ganz besondere Weise verknüpft“, erklärt der Philosophieprofessor Peter Sloterdijk. „Der 9. November ist für sie ein Tag, der ihr Geburtstrauma markiert.“ Das Trauma einer mißglückten, halbherzigen Staatsgeburt, wo „die Selbstentdeckung immer wieder heißt: sich an den Schrecken eines solchen Zur-Welt-Kommens erinnern zu müssen“ – und deshalb unterbleibt. Wo die ewige Selbst-Unsicherheit, der Selbsthaß umgedreht wird zu Haß auf das Andere, Fremde. Wo eine fatale obrigkeitsstaatliche Kontinuität neue Verbrechen gebiert, Befreiung immer wieder ausbremst und verhindert, daß der Kampf um eine eigene demokratische Identität jemals gewonnen werden konnte.
Mündig werden zu müssen gelte auch für Völker, sagt der Göttinger Historiker Christian Graf Krockow. Dem unseren sei das jedoch nie gelungen. Demokratischer Aufbruch in Deutschland habe stets im Zeichen des Zusammenbruchs gestanden. Einen Durchbruch zur Demokratie aus eigener Kraft gab es nicht.
Als Befreiung, Flucht und Verlust zugleich deutet Friedrich Schorlemmer, Pastor an Luthers Kanzel und SPD-Kommunalpolitiker in Wittenberg, den 9. November von 1989. Die Koinzidenz mit dem historischen Datum bezeichnet er als „Treppenwitz der Geschichte“. Vielleicht mußte es einfach so kommen. Was darauf folgte, hält der Ex-DDR-Bürgerrechtler für die offenbar typisch deutsche „Weigerung, Geschichte neu anzufangen“. Wie in der Vergangenheit wiederholten wir statt dessen unsere Historie immer wieder in neuen Variationen: „Wir verloren unser Subjektsein“, sagt Schorlemmer, „indem wir uns einem anderen Subjekt an die Brust warfen. Ein ganzes Land floh – vor sich selbst und seiner Geschichte. Deswegen wollten viele alle Verantwortung abstreifen, um sich dem Stärkeren, Großen anzudienen.“
Eine wenig schmeichelhafte Beurteilung, die vermutlich nicht überall gern gehört wird. (Doch wenn etwas trifft, trifft es meistens zu, die säzzerin) Die aber Grund genug sein sollte, sich noch einmal diesen Bildern auszusetzen, die an unserem bisher letzten 9. November vor vier Jahren um die Welt gingen und die nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Menschen vor den Bildschirmen zu Tränen rührten. Und sich der Frage zu stellen: Was eigentlich machen wir aus unserer zweiten historischen Chance? Ulla Küspert
„Horizonte“: Heute um 23.05 Uhr auf N 3 und um 23.15 im SFB
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen