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„Der größte Unsinn seit langem“

Seit 1. November sollen Flüchtlinge statt Bargeld nur noch Sachleistungen erhalten / Die Neuregelung stößt in den Gemeinden auf Protest, denn was Geld einsparen soll, kostet Millionen  ■ Von Vera Gaserow

„In den sieben Flüchtlingsheimen in Wolfsburg ist heute die Ausgabe von Lebensmitteln angelaufen (...) Eine Auszählung nach Beendigung hat ergeben, daß von 314 angelieferten Verpflegungspaketen nur 137 angenommen wurden. Die übrigen stehen noch zur Ausgabe bereit, jedoch ist überwiegend erkennbar, daß die Nichtannahme als Protest verstanden werden soll.“ Was der Wolfsburger Sozialstadtrat hier seiner übergeordneten Behörde mitteilt, läßt sich derzeit aus verschiedenen Städten und Gemeinden berichten: Asylbewerber, Flüchtlingsinitiativen, Wohlfahrtsverbände, Kirchengruppen und auch kleine militante Grüppchen protestieren gegen ein Gesetz, das seit dem 1.November sozialen Unfrieden und Ärger schürt.

„Asylbewerberleistungsgesetz“ heißt das Paragraphen-Ungetüm, hinter dem sich ein aufwendiges Bestrafungsinstrument für Flüchtlinge verbirgt: Von einem Tag auf den anderen wird die monatliche Sozialhilfe für Asylbewerber, die nicht mindestens schon ein Jahr in Deutschland leben, um fast 20 Prozent gekürzt. Der Haushaltsvorstand einer Flüchtlingsfamilie etwa erhält statt 514 DM jetzt nur noch 440 DM. Der Gegenwert dieses Betrags wird – außer einem Taschengeld von 80 DM – künftig nur noch in Sachleistungen ausgehändigt. So will es zumindest das im Zuge des „Asylkompromisses“ verabschiedete Gesetz.

In der Praxis jedoch versuchen viele Städte und Gemeinden, die Neuregelung zu umgehen. Denn die dort geforderte Umstellung auf Sachleistungen ist für die Kommunen ein ungeliebtes Danaergeschenk, das selbst manch „schwarzer“ Kommunalpolitiker lieber heute als morgen den Bonner Politikern vor die Füße knallen würde. Simpler Grund: Der nach außen propagierte Einspareffekt des Gesetzes bewirkt das genaue Gegenteil. Über „Mehrarbeit und Mehrkosten“ wettert Siegfried Gärtner, Sozialdezernent des Deutschen Landkreistages, wo man sich längst fragt, „was das eigentlich soll“. Von „jährlichen Mehrkosten in Höhe von mehreren Millionen, die durch unnötige Verwaltungs- und Organsiationsleistungen entstehen“, spricht das niedersächsische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten. „Nichts als ideologischer Wind“ schimpft auch die Berliner Sozialverwaltung über den „größten Unsinn seit langem“.

Was das Gesetz jetzt flächendeckend als Muß-Vorschrift verlangt, ist zwar in einigen Ländern und Gemeinden längst umstrittene Praxis. Die fünf neuen Bundesländer, aber auch das sozialdemokratisch regierte Nordrhein-Westfalen haben schon seit langem das im Bundessozialhilfegesetz als Ausnahme vorgesehene Sachleistungsprinzip für Asylbewerber zur Regel erkoren. Die meisten Städte und Gemeinden stellt die neue Regelung jetzt jedoch vor kaum lösbare organisatorische, finanzielle und soziale Probleme: Gerade in ländlichen Gegenden liegen die Asylunterkünfte weit verstreut. Deren Bewohner mit Essen und den nötigsten Gebrauchsartikeln zu versorgen, erfordert einen kostspieligen Fahrdienst mit eigenem Handelsangebot und bargeldlosem Abrechnungssystem. Einige Kommunen überlegen jetzt, Handelsketten mit der Versorgung zu beauftragen. Doch die werden dank ihrer Monopolstellung weit überhöhte Preise von ihren Zwangskunden verlangen. Eigene Kantinen zur Vollverpflegung der Bewohner wären bestenfalls in Großunterkünften rentabel. Doch da stellt sich wieder ein anderes Problem: Einige Bewohner bekommen Sachleistungen, die anderen hingegen, die bereits länger als ein Jahr hier sind, erhalten Bargeld – ein Zweiklassensytem auf engstem Raum.

Hamburg will deshalb auch nur in den Erstaufnahmeeinrichtungen die vollständige Versorgung mit Sachleistungen durchsetzen. In den anderen, häufig gemischten Heimen bekommen die Neuankömmlinge nur Hygieneartikel und Bettzeug in Naturalien. Für den restlichen Lebensbedarf erhalten sie weiterhin Bargeld. Unter Verweis auf die „praxisfremde Regelung“ des Gesetzes und auf den möglichen „sozialen Zündstoff“ hat Niedersachsen in einer Verordnung den Kommunen ausdrücklich Ausnahmen vom Sachleistungsprinzip gestattet, „wenn besondere Umstände“ es erfordern.

„Besondere Umstände“ machen schon jetzt insbesondere die größeren Städte geltend. Hannover, Osnabrück und Göttingen haben bereits erklärt, daß sie weiterhin Bargeld an sämtliche Asylbewerber zahlen werden.

Berlin, das im Bundesrat heftig gegen die Unsinnigkeiten des neuen Gesetzes angekämpft hatte, hat schon vor Wochen die Notbremse gezogen. In einem Senatsbeschluß ist festgelegt, daß das Sachleistungsprinzip nur für Flüchtlinge gelten soll, die nach Inkrafttreten des „Asylbewerberleistungsgesetzes“ eingereist sind, und das sind nur wenige. Um deren Versorgung sicherzustellen, sollen jetzt eigene Läden in den Asylunterkünften eingerichtet werden. Hätte man das Sachleistungsprinzip, wie vom Gesetz geplant, auf alle Flüchtlinge angewandt, wären allein in Berlin, so hat die Sozialbehörde errechnet, Mehrkosten von 3,5 Millionen entstanden.

Um die geforderte Umstellung auf Sachleistungen organisatorisch zu bewältigen, retten sich etliche Kommunen in die Ausgabe von Wertgutscheinen. Doch auch diese scheinbar so bequeme Lösung hat ihre Tücken: Im Zeitalter der Farbkopierer ist dieses Sonderzahlungsmittel beliebig vermehrbar. Und in etlichen Regionen haben inzwischen auch Flüchtlingsinitiativen, Wohlfahrtsverbände und Kirchengemeinden mit Umtauschaktionen den vom Gesetzgeber gewünschten Disziplinierungseffekt ad absurdum geführt. Ein Schlag ins Wasser, der absehbar gewesen wäre, wenn die Politiker nicht nur nach den Stammtischen geschielt hätten: Schon 1988 hat Berlin nach knapp zweijähriger Erprobung die einst als Abschreckungsinstrument gefeierten Wertgutscheine wieder eingestampft. Der organisatorische Aufwand war zu groß, die Abrechnung zu kompliziert, der Einzelhandel reagierte mit Unmut und Umtauschaktionen behinderten das ganze Verfahren noch weiter.

Kommentar der Berliner Sozialverwaltung heute: „Man muß ja nicht jeden Unsinn zweimal machen.“

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