Sanssouci
: Nachschlag

■ Dramatik in der Möwe

In künstlerischer Hinsicht handelt es sich bei Lesungen neuer Dramatik um eine doppelte Stellvertretersituation: Der Autor kann nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn der Text nicht gefällt, weil er ja eigentlich nur auf eine imaginäre Theateraufführung verweist. Und die Zuhörer haben aus dem gleichen Grund keine Entscheidungsbefugnis, müssen sie doch auch an ihrer szenischen Phantasie zweifeln, wenn sie zum Vorgelesenen keinen Zugang finden. Dennoch sind solche Dramatikerlesungen nicht unbeliebt. Der voyeuristische Blick in das ans Vortragspult verlegte Kämmerlein zieht das Publikum an.

Und die Neugier: Anna Langhoff und Michael Wildenhain, die am Donnerstag abend in der „Möwe“ lasen, sind namentlich nicht unbekannt. Langhoffs „Transit Heimat“ wird im Januar im Deutschen Theater (unter dem Titel „Gedeckte Tische“) in der Regie von Sevan Latchinian uraufgeführt und Wildenhains „Im Schlagschatten des Mondes“ ist schon in Tübingen, Magdeburg und Bochum inszeniert worden.

Die Stücke verbindet, daß sie sich mit gesellschaftlichen Problemen aufeinandersetzen, ohne im engeren Sinne politisch Stellung zu beziehen. Dramaturgisch und sprachlich könnten die Gegensätze kaum größer sein. Anna Langhoffs Drama spielt in einem Asylbewerberheim. Verschiedene Persönlichkeiten und Mentalitäten treffen aufeinander, die politischen Probleme des Herkunftslandes (Rumänien, „Jugoslawien“, Rußland) werden angesprochen. Es gibt eine Handlung, einen tragischen Konflikt — „Transit Heimat“ ist ein realistisches Stück, eine Milieustudie. Ein Kunst-Ausländerdeutsch wird gesprochen, das in den Monologpassagen zuweilen ins Poetische drängt. Lebensgeschichten, -ängste und -hoffnungen werden vorgestellt. Amerikanische Dramatik aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts fällt einem dabei ein: Stücke von William Saroyan oder Eugene O'Neill. Von der Figurengestaltung und der Detailgenauigkeit wird in der Urinszenierung von Anna Langhoffs Drama alles abhängen.

Wildenhains Thema ist weniger humanistisch: faschistischer Terror in der Großstadt. Eine grausame äußere Handlung kontrastiert mit inneren Monologen, die einer Sortimentstexthandlung zu entstammen scheinen: Glattpolierte Versatzstücke aus der Reklame, aus Sozialreportagen, Wahlreden, Nachrichten, Feuilletons. Propagandistische und lyrische Fertigteile werden angerissen („Aber der Tod ist ein Meister“, „Von der Sowjetunion lernen“). Fetzen deutscher Kultur und Kulturgeschichte, scheinbar bruchlos zu Textflächen verschmolzen. Skinheads denken in Versen oder blumiger Prosa. Morde werden im wohlgesetzten Konjunktiv geplant. Dazwischen Parolen.

Reizüberflutete und -überfrachtete Hirne linker und rechter Couleur reagieren bei Wildenhain nach außen mit mechanischer Gewalt. Das wäre durchaus ein Text für Berlin. Er braucht eine musikalische, choreographische, bildermächtige Regie. „Im Schlagschatten des Mondes“ ist ein Endspiel. Michael Wildenhain ist wohl auch dieser Ansicht. Er konzipiert eine Trilogie daraus und schreibt derzeit an den ersten beiden Stücken. Petra Kohse