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Krise des Brasilianismus

Fußball-Länderspiel Deutschland – Brasilien 2:1 / Munteres Wettholzen ersetzte den alten Ballzauber, so daß selbst der Brasilianismus erfror  ■ Aus Köln Matti Lieske

Grob geschätzt 27mal haben Fernsehreporter am letzten Bundesliga-Spieltag den Begriff „brasilianisch“ benutzt, um irgendeinen halblebigen Hackentrick, einen geglückten Doppelpaß oder eine unversehene technische Finesse zu feiern. Seit immer mehr Brasilianer in der Bundesliga auftauchen und selbst Bernd Schuster die steife Hüfte im Sambajubel schwingt, hat das Brasilianische Hochkonjunktur in deutschen Fußball-Landen. Was aber ist eigentlich brasilianischer Fußball? Mit Sicherheit nicht das, was die deutsche Nationalmannschaft im Länderspiel gegen Brasilien darbot, und genausowenig das, was die Brasilianer selbst dem ergeben bibbernden Publikum vorführten. „Die Brasilianer“, so erkannte scharfsichtig Andreas Brehme, der als seine eigene Reinkarnation im linken Mittelfeld debütierte, „haben nicht typisch brasilianisch gespielt.“

Mit ihrem präzisen, schnellen Kurzpaßspiel pflegten die Brasilianer in der Vergangenheit regelmäßig die auf Zweikämpfe abgerichteten Europäer zu verwirren, doch inzwischen wird ihr System in Perfektion nur noch von den Kolumbianern und in Europa an guten Tagen vom FC Barcelona beherrscht. Brasilien selbst spielt das, was dort abfällig als „Dunga-Fußball“ bezeichnet wird, eine europäisierte Variante, mit der das Team schon bei der letzten WM und fast bei der Qualifikation für die nächste auf den Bauch fiel. Einzig die Stürmer Bebeto und Romario sorgten dafür, daß das Land, in dem die Wiege des guten Fußballs stand, 1994 in den USA dabei sein wird. Diese beiden fehlten am Mittwoch gegen die Deutschen, die Kälte und die aggressive Spielweise des Gegners taten ein übriges, um den Kombinationsfluß der ungenau spielenden und haargenau foulenden Südamerikaner im Keim zu ersticken. Bodo Illgner verbrachte einen relativ ruhigen Abend, nur die flatternden 40-Meter-Freistöße von Branco störten die abendliche Meditation des Interims-Torhüters.

Auf der anderen Seite glänzte nur Andreas Möller, wohlbehütet von seinem „Bodyguard“ (Bundestrainer Berti Vogts) Guido Buchwald. Das reichte zum 2:1-Sieg, da Brasiliens Ausgleichstreffer in der zweiten Halbzeit vom dänischen Schiedsrichter, den hin und wieder ähnliche Blindheitsanfälle befielen wie die Kicker seines Landes am gleichen Abend in Sevilla, nicht anerkannt wurde. „Ich glaub', das Ding war drinne“, kommentierte der ehrliche Brehme jenen Dunga-Kopfball, den Illgner ein wenig zu spät erhaschte.

Doch verdient war der Sieg für die munter mitholzenden Deutschen allemal, dank des Lichtblicks Möller und seines Wasserträgers Buchwald, dem es sogar vergönnt war, mit langem Storchenbein in der 38. Minute das 1:0 zu erzielen. Den postwendenden Ausgleich durch Evair beantwortete Möller in der 41. Minute nach schönem Matthäus-Zuspiel mit einem herzhaften Schuß, „den ich super mit dem Spann erwischt habe“, zum 2:1. Der Rest war ein ziemliches Gewürge und Getrete im Mittelfeld, bitterer Vorgeschmack auf die ästhetischen Leckerbissen, die einen bei der nächsten Weltmeisterschaft erwarten.

Bundestrainer Berti Vogts war „phasenweise zufrieden“, Matthäus, der sich in seinem 104. Länderspiel einige grobe Patzer leistete, in der Defensive stark, in der Offensive absent, hatte ein „sehr gutes Länderspiel“, Effenberg, der im Stile eines Zweitligaspielers die rechte Seite entlangrüpelte, ebenfalls. Voller Überschwang verabredete sich Vogts mit seinem brasilianischen Kollegen Parreira schon mal für das WM-Endspiel 1994, nach den Leistungen von Köln eine gewagte Prognose. Parreira kann immerhin auf eine Rückkehr des Brasilianismus in Gestalt von Romario, Bebeto und einigen anderen am Mittwoch fehlenden Stammspielern hoffen, Berti Vogts dagegen scheint jenen Weg zu gehen, dem bislang kaum ein Titelverteidiger widerstehen konnte und der stets zum Mißerfolg führte. Ganz beharrlich nähert sich das deutsche Team in Besetzung und Spielweise wieder der Weltmeister-Mannschaft von 1990 an, eine Entwicklung, die Andreas Brehme prägnant auf den Punkt brachte. Ob sich während seiner 16monatigen Abwesenheit etwas geändert habe im deutschen Spiel, wurde er gefragt. Ein baß erstaunter Blick und dann die Antwort: „Nöö, da ändert sich sowieso nie was.“

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