Die Hisbollah als Sozialamt

Die Schiitenmiliz im Südlibanon verlagert ihre Aktivitäten vom bewaffneten Kampf ins Soziale  ■ Aus Nabatiye Karim El-Gawhary

Die libanesische Kleinstadt Nabatiye liegt zwei Autostunden südlich von Beirut und damit mitten im Hisbollah-Land. Darüber können auch nicht die wenigen Soldaten der regulären libanesischen Armee hinwegtäuschen, die seit einigen Monaten symbolisch im Ort postiert sind. Doch wer eine strenge Islamisten-Stadt erwartet, mit Plakaten grimmiger Scheichs und schwarzen Fahnen der Hisbollah („Partei Gottes“), der wird enttäuscht. Im Zentrum des mehrheitlich von schiitischen Muslimen bewohnten Städtchens herrscht eine auffallend lockere Atmosphäre. Frauen laufen zum großen Teil unverschleiert durch die Straßen, und so mancher kurze Rock würde in der arabischen Metropole Kairo als hart an der Grenze zur Sittenwidrigkeit gelten. In den Kaffeehäusern spielen Männer Karten, und am Zeitungskiosk kann man das deutsche Teenager-Magazin Bravo oder die neueste Ausgabe einer französichen Mode-Zeitschrift kaufen.

„Die Leute im Süden sind bekannt für ihre Sturheit“, erklärt Muain Adsch-Dschaber, Chef der Stadtverwaltung von Nabatiye. „Wir werden ständig bombardiert, aber wir werden nicht von hier weggehen.“ Nabatiye liegt nur wenige Kilometer von der südlibanesischen „Sicherheitszone“ entfernt, die von israelischen Soldaten und der von ihnen bezahlten „Südlibanesischen Armee“ (SLA) kontrolliert wird. „Besetztes Gebiet“ nennen die Libanesen, die hier leben, den Streifen.

Seit Jahren führen die israelischen Soldaten, ihre libanesischen Söldner und die Hisbollah einen ungleichen Schlagabtausch. Die Kämpfer der Schiitenorganisation feuern Katjuscha-Raketen Richtung Süden, und die Israelis antworten mit ihren Geschützen, bombardieren mit ihrer Luftwaffe die Dörfer oder jagen auch mal mit ihren Panzern die Hisbollah- Kämpfer. Das letzte Mal geschah das im großen Stil vor drei Monaten. Hunderte von Häusern wurden dabei zerstört, und innerhalb von wenigen Tagen mußten Hunderttausende Libanesen nach Norden fliehen. Unmittelbar nachdem die Angriffe vorbei waren, kehrten sie jedoch wieder zurück und begannen mit dem Wiederaufbau. Das, so Adsch-Dschaber, „ist unsere Art von Widerstand“.

Wenige Kilometer von Nabatiye entfernt liegt in einem Tal direkt an der Frontlinie das Dorf Kafr Rumane. Auf den Hügeln um den Ort sind die Stellungen der israelischen Armee und der SLA zu sehen. Von dort oben nehmen sie regelmäßig das Tal unter Beschuß. In dem Dorf zeugen zahlreiche Ruinen davon.

Im Garten eines der etwas größeren Häuser hält der schiitische Parlamentsabgeordnete Abdel Latif Al-Zain jedes Wochenende Audienz – ganz in der Art der libanesischen Notabeln. „Der meiste Besitz unseres Dorfes, die Zitronen- und Orangenhaine, liegen dort unten“, sagt er und deutet die Straße herunter, die in der „Sicherheitszone“ endet.

Der Süden ist die große Unbekannte der libanesischen Zukunft. Im ganzen Land wird derzeit spekuliert, ob nach dem Handschlag zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat am 13. September in Washington nun auch für den Libanon eine Lösung gefunden werden kann, die mit dem Rückzug der israelischen Truppen endet. Die Syrer, davon sind die meisten Libanesen überzeugt, werden mit den Israelis über den annektierten Golan und den besetzten Südlibanon in einem Paket verhandeln.

Berichte über entsprechende Geheimkontakte tauchen in regelmäßigen Abständen auf, um anschließend wieder dementiert zu werden. Erst am Sonntag hatte zuerst der israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin von „großen Fortschritten“ in den Verhandlungen mit Syrien berichtet. Wenige Stunden später hieß es aus Damaskus, derzeit würden Syrer und Israelis nicht einmal miteinander reden. Dementsprechend unterschiedlich sind im Süden Libanons die Hoffnungen auf einen baldigen Frieden. Während einige davon überzeugt sind, daß in maximal drei Monaten ein Abkommen zwischen Syrern, Libanesen und Israelis unterschriftsreif ist, glauben andere, daß der Status quo noch Jahre andauern wird.

Al-Zain gehört in der Frage zu den Pessimisten: „Ein Rückzug liegt nicht im israelischen Interesse. Seit 15 Jahren haben sie sich nicht zurückgezogen. Warum sollten sie es heute tun?“ fragt er. Er traut dem Frieden zwischen der PLO und der israelischen Regierung nicht. Im Süden Libanons wird seiner Meinung nach der Widerstand so lange weitergehen, wie die Israelis sich weigern, die UN- Resolution 425 zu erfüllen und aus dem Gebiet am Ende der Straße zu verschwinden. „Von uns zu verlangen, den Widerstand aufzugeben, ohne daß wir irgendwelche Garantien erhalten, ist vollkommen irreal. Wenn sie heute sagen würden, Israel zieht sich zurück, und ihr gebt euren Widerstand auf, dann könnte man darüber nachdenken“, fügt er hinzu.

Wen Al-Zain „Widerstand“ sagt, dann meint er in dieser Gegend die Aktionen der Hisbollah. Doch die islamistische Schiitenorganisation ist hier nicht nur Synonym für den bewaffneten Kampf. Tausende von Häusern und Läden wurden im Süden mit Hilfe der Dschihad-Baubrigaden, einer Unterorganisation der Hisbollah, in den letzten Monaten wieder aufgebaut. „Das haben die Baubrigaden nur gemacht, damit die Menschen nicht sauer auf sie werden, wenn die Israelis nach Aktionen der Hisbollah wieder gewütet haben“, meint zwinkernd ein junger Ladenbesitzer. Nicht alle hier stehen bedingungslos hinter den Islamisten.

„Wir gehören alle zur Hisbollah“, sagt dagegen stolz einer der Jugendlichen, die sich auf dem Sportplatz in Nabatiye unmittelbar vor der zentralen Moschee versammelt haben. Sie halten Transparente mit Parolen der Organisation in die Höhe: „Solange es Israel gibt, wird Widerstand geleistet.“ Doch was wird passieren, wenn es einen Friedensvertrag gibt und Israel sich von den Höhen rund um die Kleinstadt zurückzieht? „Solange Israel existiert, wird es den bewaffneten Kampf geben“, prescht einer der Jugendlichen vor. Er wird aber von seinem Nachbarn schroff gebremst. Dann, so meint dieser, müsse man erst einmal nachdenken: „Vielleicht muß man sich dann mehr auf den politischen Kampf verlegen.“

Zahlreiche Anzeichen deuten darauf hin, daß sich die Hisbollah mehr auf die legale politische Arena konzentrieren wird. Bei den letzten libanesischen Parlamentswahlen vor einem Jahr war sie das erste Mal als Partei angetreten. Acht Vertreter der Hisbollah sitzen seitdem im Beiruter Parlament.

Im Süden des Landes steht derzeit die Basisarbeit auf der Prioritätenliste der Organisation. Die Hisbollah finanziert mit Hilfe von Geldern aus dem Iran eigene Wohlfahrtsprogramme. Bauern werden mit Taxis kostenlos zu ihren entlegenen Feldern transportiert. Eigene Hisbollah-Supermärkte bieten subventionierte Waren an. Besonders arme Familien bekommen dort sogar gratis Nahrungsmittelpakete. Billig und zum Teil sogar kostenlos ist auch die medizinische Versorgung, die die Hisbollah zur Verfügung stellt. In den südlichen Slum-Vororten von Beirut beschafften Vertreter der Organisation Generatoren und elektrische Pumpen. Mit ihrer Hilfe wird Wasser in höher gelegene Etagen gepumpt.

Eines der wichtigsten Instrumente zur Rekrutierung von neuen Mitgliedern bilden die Hisbollah-eigenen Schulen. Aber ironischerweise sind bei den Islamisten auch Stipendien für die „westliche“ Amerikanische Universität in Beirut zu bekommen.

Trotz dieser hervorragenden Infrastruktur und der Verankerung der Hisbollah in der Bevölkerung, glauben einige, daß die Tage der Schiitenorganisation gezählt sind. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit“, meint der Mann an der Saftpresse im Zentrum von Nabatiye. „Sobald die Syrer mit den Israelis einen Vertrag abschließen, wird sich die Hisbollah selbst auflösen.“ Im Moment würden die Syrer die Hisbollah unterstützen und kontrollieren, weil sie dafür von den Iranern kostenlos Öl bekämen. Wenn Syrien sich mit Israel einige, werde die Regierung in Damaskus die Hisbollah jedoch fallenlassen wie eine heiße Kartoffel.

Was einen Abzug der Israelis aus dem Süden Libanons angeht, ist der Safthändler optimistisch. Die israelischen Militärs hätten genug von dem teuren Abnützungskrieg, der in ihren militärischen Lehrbüchern nicht vorgesehen sei, und planten bereits den Rückzug. Mit den israelischen Soldaten würde aber die Hisbollah ihre bisher wichtigste Daseinsberechtigung verlieren. Weil der bewaffnete Widerstand gegen die Besatzer bald nicht mehr notwendig sei, verlege sich die Hisbollah derzeit aufs Soziale, meint der Mann an der Saftpresse.

Aus Sicht der Menschen, die auf der anderen Seite – im besetzten Teil des Südlibanon – leben, stellt sich die Zukunft ganz anders dar. Das christliche Dorf Jezzin liegt am nördlichsten Zipfel eines Tales, das von der SLA kontrolliert wird. Obwohl das Gebiet offiziell außerhalb der „Sicherheitszone“ liegt, laufen in den Straßen Soldaten der SLA in israelischen Uniformen mit hebräischer Aufschrift herum.

„Die Leute haben Angst vor der Zukunft“, sagt Edmond Rizq. Der örtliche Notabel war früher Justizminister und ist ein christlicher libanesischer Nationalist. Den Menschen stecke die jüngste Vergangenheit des Libanon zu sehr in den Knochen, meint er. Nur internationale Garantien könnten der Bevölkerung hier Vertrauen einflößen.

Aber was passiert mit der SLA, wenn sich deren israelische Unterstützer aus dem Südlibanon zurückziehen? Rizq schlägt vor, sie wie die anderen libanesischen Milizen auch – entsprechend dem 1989 in Taif geschlossenen Abkommen – zu entwaffnen und in die reguläre libanesische Armee zu integrieren. Das scheint auch bei der SLA als Lösung akzeptiert zu werden, obwohl man sich dort bisher standhaft geweigert hat, als eine der libanesischen Milizen angesehen zu werden.

Die Integrationslösung wird auch in Beirut favorisiert. Die verschiedenen libanesischen Fraktionen scheinen keinerlei Rachegelüste gegen die derzeitigen Söldner der Israelis zu hegen. „Die sind genauso Libanesen wie wir“, ist immer wieder zu hören. Wer wirklich zuviel Dreck am Stecken habe, der könne dann auch nach Israel oder Kanada auswandern, meint ein Redakteur der Tageszeitung An- Nahar in der libanesischen Hauptstadt. Für die Sicherheit der Grenze könnte dann die reguläre libanesische Armee sorgen, die bisher nur symbolisch im Süden präsent ist. Notfalls, so munkelt man, mit Hilfe der Syrer.

Eine der christlichen Familien in Jezzin formuliert ihre Stimmungslage so: „Unsere Hoffnung ist größer als unsere Angst. Heute leben wir in einem riesigen Gefängnis. Auf der einen Seite liegt Israel und auf der anderen die Gebiete der Hisbollah.“ Sollte es zu einem Vertrag zwischen Israel und dem Libanon kommen, dann könnte dieses malerische Tal vielleicht wieder touristisch erschlossen werden, träumt ein Familienmitglied. Die sechs Hotels, die früher Besuchern offenstanden, könnten dann wieder ihre Pforten öffnen. Neue mehrstöckige Häuser, die sich auf den Hügeln des Südens abzeichnen, sind die Vorboten eines neuen Optimismus. Geht es nach den Bauherren, sollen dort libanesische Sommerfrischler in Zukunft ihre Ferien verbringen. Die ersten risikobereiten Auslandslibanesen haben wieder begonnen, ihr Geld in der Region anzulegen. Ihre Investitionen gelten als Gradmesser dafür, wie es tatsächlich um die Zukunft des Südlibanon steht. Die aktuellen Statistiken bieten Grund zur Zuversicht. „Stecke einen Dollar herein und hole vier heraus“, beschreibt ein libanesischer Bauunternehmer das lukrative Geschäft.