Von der „Weißen Rose“ zu den Reps

Als 18jähriger engagierte er sich im Widerstand gegen Hitler-Deutschland, heute ist er Parteimitglied bei den „Republikanern“ / Von den Irrungen und Wirrungen im Leben des Hans Hirzel  ■ Aus Wiesbaden Heide Platen

Auf dem Tisch stapeln sich nach und nach immer mehr vergilbte, alte Bücher und Schriften. Immer wieder fällt Hans Hirzel noch etwas ein, dann springt er flink auf, holt noch dieses und jenes herbei: „Da habe ich noch etwas, daß ich Ihnen zeigen muß!“ Da ist ein Foto, ein Jungengesicht, unausgeprägt, unauffällig und sanft. Es zeigt den Schüler Hans Hirzel, 1924 geboren und in Ulm aufgewachsen.

Und dann ist da noch das Buch „Studenten aufs Schafott“ von Christian Petry: „Der hat mich dreizehnmal erwähnt, aber meinen Sie, der hat auch nur ein einziges Mal versucht, mit mir zu reden?“ Trotzdem hält Hirzel dieses Buch für das beste unter den vielen, die die Geschichte der studentischen Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ aufarbeiten. Aber: „Unzulänglich ist eigentlich alles.“

Am 22. Februar 1943 wurden die Geschwister Hans und Sophie Scholl, 24 und 21 Jahre alt, in einem Schnellverfahren des Volksgerichtshofs unter Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt, im Gefängnis Stadelheim zur Guillotine geführt und geköpft. Mit ihnen starb Christoph Probst. Fünf Monate später folgten ihnen Professor Kurt Huber und Alexander Schmorell auf das Schafott, im Oktober 1943 Willi Graf, im Januar 1945 wurde das letzte Todesurteil an Hans Leipelt vollstreckt. Der damals 18jährige Gymnasiast Hans Hirzel wurde im zweiten Prozeß gegen die „Weiße Rose“ am 19. April 1943 zu fünf Jahren, seine Schwester Susanne zu sechs Monaten Haft verurteilt. Am 50. Jahrestag seiner Verurteilung ist Hirzel, vorher 16 Jahre in der CDU, Parteimitglied bei den „Republikanern“ geworden. Er kandidiert auf ihrer Liste für das Europaparlament.

„Das hat Irritationen gegeben“, sagt Hirzel. Nachdem sein Eintritt in die Schönhuber-Partei bekannt wurde, habe er „besorgte, entsetzte und wütende“ Telefonanrufe bekommen, auch einen „richtigen Schmähbrief“. Die Irritationen sind nicht verwunderlich. Hans Hirzel war in den fünfziger Jahren Redakteur der linksliberalen, katholischen Zeitschrift Frankfurter Hefte, dann Privatsekretär des katholischen Publizisten Walter Dirks, dann wissenschaftlicher Assistent bei Theodor W. Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung, der Wiege der „Kritischen Theorie“.

Die Fernsehkameras, die Öffentlichkeit, mit der er auch kokettiert, sind ihm manchmal nicht ganz geheuer. Einerseits mitteilsam und lebhaft, möchte er andererseits preußisch bescheiden sein. Er bezeichnet sich selbst als einen „analytischen Typ“. Nichts ist ihm, betont er immer wieder, wichtiger als „Sachlichkeit, sachliche Auseinandersetzung“.

Am Klavier zeigt er vehement, was er meint, wenn es ihm um die Trennung von Tatsachen und Gefühl geht. Er spielt die Melodien einiger Nazi-Lieder. Ohne den braunen Text klingen sie wie heitere Wanderlieder. Dann singt, brummt und zitiert er die Texte: „Die sagen so wenig aus, daß es von Null kaum zu unterscheiden ist!“ Eigentlich nur, daß sich Menschen von A nach B bewegen, und zwar in „die Zukunft, wohin auch sonst?“ So „dünn“ das war, meint er, reichte es doch für die meisten „als Grundlage für die Zustimmung“ zu dem „gewaltigen, zerstörerischen und hochgefährlichen Geschehen des Krieges“.

So hat er als Schüler in Ulm, auch aus Opposition zu den „meisten“ Erwachsenen, den Nationalsozialismus zerpflückt. Freunde, Familie und Bekannte empfanden die „Hitler-Sache“ seit Anfang der vierziger Jahre, als ihnen klar wurde, daß der Krieg nicht zu gewinnen war, zunehmend als Verrat an deutschnationalen, völkischen Traditionen.

Zuallererst aber habe ihn der Umgang mit den Juden zum Nachdenken gebracht. Sein Freund aus der Grundschule durfte nicht mit ihm zusammen auf das Gymnasium wechseln, weil er Jude war. „Außerdem war ich gepackt von der Mathematik. Und ich wollte es immer genau wissen.“ Die Nazis hatten den in Ulm geborenen Albert Einstein als Juden angegeriffen und disqualifiziert. Hirzel besorgte sich Originalschriften. Einstein, stellte er fest, „stand völlig in der großen Tradition griechischer Kosmologie, von Archimedes, Galilei, Kepler und Newton“. Außerdem habe er schon als Zwölfjähriger gelegentlich die blutrünstige Polemik des Stürmer gegen angeblich rituelle Säuglingsschlachtungen der Juden im Zeitungsschaukasten gelesen: „Das stieß mich ab.“

Juden kennt er eigentlich nur als „ordentliche Leute oder sogar Respektspersonen, als Ärzte, Zahnärzte, Kleiderfabrikant, Musiker“. Er begeistert sich für die „mächtige, kraftvolle Sprache“ der Psalmen. Später verfremdet er ein Nazi-Plakat: den Davidsstern, auf dunklem Grund zwischen die Schriftzüge „Wer dieses Zeichen trägt...“ „...ist ein Feind des Volkes“ gesetzt, tauscht er einfach gegen das NSDAP-Parteiabzeichen aus.

Sein Entwurf wird nie gedruckt, aber bei einer Hausdurchsuchung von der Gestapo gefunden. „Und dann war da das mit der Euthanasie. Das konnten die nicht geheimhalten.“ Er findet es „verlogen“, daß die Regierung das Euthanasie- Programm offiziell bestreitet, andererseits aber einen Werbefilm dafür an den Schulen zeigt: „Der Staat beging diese Kapitalverbrechen, leugnete sie und propagierte sie gleichzeitig, was für eine Ungeheuerlichkeit!“

Zu Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit in Wahlkampf und Reden der Republikaner angesprochen, wird er fast militärisch knapp: „Ich habe nichts dergleichen bemerkt. Bei mir wird Antisemitismus nie salonfähig sein.“ Das gelte „auch auch für Herrn Schönhuber“. Er selber kaufe sein Gemüse bei den Türken in Wiesbaden, nur: „Da bildet sich ein Ghetto. Das macht mir Angst.“ Er bekomme da Schreckensvisionen von „Bürgerkrieg, wenn die alteingesessene Bevölkerung zu sehr gereizt und belastet wird“. Das sei „ein Hauptgrund“, warum er heute bei den Republikanern sei. Der Frage nach dem rechten Wahlwerbespot, der zur Titelmelodie des Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ türkische Kinder in Berlin zeigte, weicht er aus: „Darüber hat sich mein ältester Sohn auch sehr aufgeregt! Aber ich habe den Spot nicht gesehen.“

Bei der „Weißen Rose“ sei er, schreibt und sagt Hirzel immer wieder, nur „eine Randfigur gewesen“. Mit Hans Scholl habe er nur zweimal ausführlich diskutiert. Beim ersten Mal stapfen die beiden jungen Männer in Ulm bei einem Spaziergang durch den Winterschnee. Hans Scholl grübelte darüber, ob ein „Widerstand“ gegen Hitler für ihn und seine Generation junger Studenten überhaupt sinnvoll und ob es nicht „vermessen“ sei, „in das Rad der Geschichte einzugreifen“. Als Hans Hirzel ein anonym verschicktes Flugblatt bekommt, erkennt er Passagen aus diesem Gespräch wieder.

Nun nimmt er heimlich in München Kontakt mit den Scholls auf. Später adressieren und verschicken er und sein kleiner Freundeskreis in Ulm die Flugblätter aus München, die ihm eigentlich zu „literarisch“ sind: „Ich wußte damals noch nichts von der Macht, die vom Wort ausgehen kann. Ich habe inzwischen dazugelernt.“

Nach dem Krieg schlägt sich Hirzel als freier Mitarbeiter beim Norddeutschen Rundfunk durch. Das Nachtprogramm, das er moderiert, hört er sich selbst nicht an, weil er das Metier verachtet. Ein Bild, das er in jener Zeit malt, ist ein düsterer Blick über einige traurige kleine Topfpflanzen hinweg auf einen finsteren Himmel. Nach jeder Honorarzahlung hat er sich ein Töpfchen der teuren Farbe geleistet.

Andere, frühere Bilder sind heiter, zitieren den Spätexpressionismus der Vorkriegsjahre: „Das war damals entartete Kunst.“ Auch da sieht er, wie beim Antisemitismus, einen Informationsbedarf bei der Basis seiner neuen Partei über die Komplexität deutscher Geisteswissenschaften, Kultur und Kunst, die schließlich „nicht nur von den Germanen“ geprägt worden seien. Eine eigene Staatstheorie, in der er nachdrücklich für eine verfaßte Demokratie plädiert, hat er nie veröffentlicht und auch nicht damit promoviert: „Ich hatte damals das Gefühl, ich sollte das nicht tun. Die Arbeit war zu sehr aus der eigenen Biographie heraus entstanden. Das war wie ein innerer Zwang. Ich wollte mir das einfach von der Seele schreiben.“

Was nun eigentlich hat ihn, der von sich behauptet, lieber bescheiden und nicht öffentlich exponiert leben zu wollen, zu den Republikanern getrieben? Hirzel reklamiert sein Gerechtigkeitsgefühl. Er habe sich diese Partei, eben weil sie ständig öffentlich diskriminiert werde, „einmal genauer ansehen wollen“. Der Augenschein habe ihm „viele aufrechte, ehrliche Menschen“, häufig aus der „unteren Mittelschicht“ gezeigt, die „das aussprechen, was viele denken, aber sich nicht zu sagen trauen“. Und da kehrt sich für ihn, einigermaßen verblüffend, Geschichte um, wandelt sich im Umkehrschluß zur ungerechten Tabuisierung und Verfolgung der Republikaner.

Er entrinnt dabei der deutschnationalen Innerlichkeit nicht. Da ist der 1865 geborene, verehrte Großvater Gradmann, dessen „Pflanzenleben der Schwäbischen Alb“ ein „Klassiker der Pflanzensoziologie“ wurde, der begeisterte Naturbeschreibungen verfaßte und feinsinnig, „aber immer sachlich fundiert“ polemisierte. Und da ist der Vater, der sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg trotz schwerer Verwundung wieder an die Front meldete. Eine eigene Meinung, wie ein Staat beschaffen sein soll oder „wie er nicht sein darf“, habe er während seines Engagements für die „Weiße Rose“ nicht gehabt: „Ich schätzte mich dafür als zu jung ein.“

Es habe ihm und anderen anfänglich auch widerstrebt, an illegalen Widerstand zu denken. Dazu, überlegte er, gehöre, anders als „bei einem von oben her geführten Putsch“, auch „heucheln, Masken tragen, Tarngeschichten erfinden“. Eben diese Methoden, „Unmenschlichkeit nach dem Grundsatz, der Zweck heilige die Mittel“, waren es, die sie „dem Nazitum“ vorwarfen. Diese Überlegungen hören sich in einer schriftlichen Zusammenfassung von Hans Hirzel etwas gestelzt an: „...lag noch ein grundsätzliches Bedenken in der Luft: die Frage nach der grundsätzlichen Erlaubtheit eines oppositionellen Beeinflussungsversuchs in Anbetracht der nicht zusammenpassenden Größenordnungen zwischen dem ungeheuer großen Problem, um das es ging, und der Kleinheit und Machtlosigkeit des Kreises der das Handeln erwägenden Personen.“

Das sei heute schwer erklärbar, aber es habe eine Scheu vor dem „Rangunterschied“ gegeben: „Konnte es richtig sein, daß zwischen diesen beiden unvergleichlichen Welten eine direkte Verbindung hergestellt wurde... Bedeutete es nicht einen weiteren Verstoß gegen die Ordnungen, die ohnehin gestört waren?“ Auf das vermutete Kriegsende hin wollten sie dann aber doch Signale setzen: „Wehe denen, die die furchtbaren Dinge veranlaßt hatten, und wehe denen, die aufgrund ihrer Stellung die Pflicht hatten, ihnen entgegenzutreten und das nicht taten.“

Nein, eine „neue politische Heimat“ seien die Republikaner für ihn nicht, hatte er im September einem Fernsehteam gesagt. Aber er mag dort doch etwas gefunden haben, das er in den Jahren nach 1945 vermißte: „Ich glaubte, daß man sich mit den Vorgängen, die zu diesem ungeheuren Desaster geführt hatten, auseinandersetzen“ müsse. Das sei aber nicht der Fall gewesen. Er habe bei dem hektischen Wiederaufbau nicht mittun wollen: „Das war Verdrängung der wesentlichen Fragen durch äußere Betriebsamkeit. Da passierte nichts, obwohl doch Tote und Ruinen mit den Händen zu greifen waren.“

Er wolle auch heute noch wissen, was 1933 eigentlich innerhalb der knapp drei Wochen nach den Reichstagswahlen passiert sei, als die Abgeordneten gegen die Mehrheitsergebnisse für das „Ermächtigungsgesetz stimmten und Hitler zum Diktator machten“: „Alles, was ich darüber gelesen habe, ist daran vorbeiformuliert.“ Es gehe doch aber darum, „mit wieviel Verrat der Wähler unter Umständen seitens der politischen Oberschicht zu rechnen hat“. Mit Blick auf die heutigen „Altparteien“ tadelt er: „Es wird viel zuviel an der Verfassung herumgefummelt. Die Spielregeln der Machtverhältnisse werden zu kurzfristig zum eigenen Vorteil geändert.“

Die Stadt Ulm wollte für die „Ulmer Schülergruppe“ der „Weißen Rose“ eine Gedenktafel mit vier Namen aufstellen. Das haben Hirzel und seine Schwester Susanne abgelehnt: „Ich wollte keinen Stehempfang mit Schnittchen. Im Gefängnis hatten wir ganz andere Gedanken. Und die Toten sind tot. Wir haben gedacht, wir hätten vielleicht auch nicht überleben dürfen.“