piwik no script img

Was meint Achmed mit „ficken“?

■ Ein elfjähriger türkischer Junge haut von zu Hause ab, kehrt zu den Eltern zurück und erzählt seinen Eltern, Männer hätten ihn sexuell mißbraucht / Angeklagt ist ein Deutscher, der einer Gruppe angehört, die Pädophilie gutheißt

Der kulturelle Gegensatz in dem Strafprozeß, der sich seit Wochen im Kriminalgericht Moabit hinzieht, könnte kaum größer sein. Auf der Angeklagebank sitzt ein 26jähriger arbeitsloser Deutscher, dem vorgeworfen wird, einen elfjährigen Türken mehrfach sexuell mißbraucht zu haben. Die in Kreuzberg lebende Familie des Jungen ist streng moslemisch. Mutter und Schwester gehen nie ohne Kopftuch auf die Straße, der Vater besucht bis zu fünfmal am Tag die Moschee. Das Nacktheitstabu gebietet es den Männern vom Knabenalter an, in der Badewanne eine kurze Hose zu tragen.

Der Angeklagte Stefan H. und seine Freunde, die den Prozeß als Zuschauer verfolgen, verteufeln sexuelle Tabus dagegen geradezu. Die zum Teil wie Kreuzberger Punks aussehenden Männer und Frauen fühlen sich der sogenannten Kinderrechte-Bewegung zugehörig, hinter der sich die offen für Pädophilie eintretende Indianerkommune Nürnberg verbirgt.

In der Wanne tragen türkische Knaben Hosen

Bis Mitte der Achtziger waren die Indianerkommunarden der Schreck vieler Linker. Sie sprengten mit Vorliebe politische Veranstaltungen, indem sie auf Tischen herumsprangen und Resolutionen für freie Sexualität und Liebe zwischen Kindern und Erwachsenen forderten. In Kreuzberg verzichtet die Kommune jedoch schon seit geraumer Zeit darauf, mit dem alten Namen in Erscheinung zu treten. Denn es hat mehrfach Prügel von seiten der Alternativszene gesetzt, die für freien Sex kein Verständnis hat, wenn es um die eigenen Kids geht. Auch dem Angeklagten soll vor einigen Jahren wegen angeblicher sexueller Kontakte zu Kindern einmal die Wohnung demoliert worden sein.

In den Broschüren, die die Freunde des Angeklagten am Rande des Prozesses verteilen, taucht der Name Indianerkommune nicht auf. Statt dessen wird ein „Kinder-Bedürfnistelefon“ in Kreuzberg genannt. Die Nummer des „Kinderrechte-Telefons“ ist mit der Nummer der Indianerkommune Nürnberg identisch.

Der langjährige Häuptling der Indianer sitzt bei jedem Prozeßtag im Zuschauerraum und macht sich Notizen. Das Ergebnis ist in einer als „Dokumentation über den Kinderrechteprozeß gegen Tom“ (gemeint ist Stefan H.; d. Red.) betitelten Broschüre nachzulesen: Tom sei unschuldig und drohe einem „kriminell wirkenden Falschbeschuldigungsspiel“ zum Opfer zu fallen, heißt es darin. Das Gericht, der Gutachter und die dem Prozeß beiwohnenden Kinderschutzfrauen von „Wildwasser“ wollten Tom aber „unbedingt“ als Täter verurteilt sehen. Weil Kinder ihn „lieben“ und mit ihm „auf offener Straße spielen“. Der intellektuell dürftige publizistische Feldzug wird auf Kosten der Familie des elfjährigen türkischen Jungen Achmed* ausgetragen: Das Titelfoto zeigt einen weinenden türkischen Jungen, der gerade beschnitten wird. Im Text finden sich hausbackene Analysen über Machtverhältnisse und Sexualpraktiken moslemischer Familien.

Der Angeklagte Stefan H. hat sich zu den Vorwürfen bisher nicht geäußert. Laut Staatsanwaltschaft soll er die Taten im vergangenen April begangen haben. Achmed war damals von zu Hause abgehauen, von dem Angeklagten aufgegabelt und mit in eine Wohnung in der Reichenberger Straße genommen worden. Dort hielten sich neben ein paar Freunden von Stefan H. auch drei kleine Mädchen auf, die den Männern von ihren Müttern anvertraut worden waren. Achmed blieb dort. Über seine Eltern soll er erzählt haben, sie seien tot, und er habe kein Zuhause. In Wirklichkeit hegten die Mutter und der Vater schlimmste Befürchtungen. Sie erstatteten Vermißtenanzeige und fahndeten überall nach dem Kind. Zwei Tage nach seinem Verschwinden wurde Achmed zufällig von seinem zwölfjährigen Cousin auf der Straße gesehen. Der sorgte dafür, daß das Kind nach Hause zurückkehrte, und führte dessen Vater in die Reichenberger Straße. Der lud Stefan H. und einen seiner Freunde noch am selben Abend zu sich ein. Die Mutter bewirtete die Gäste mit Tee. Plötzlich fing Achmed an zu weinen und erzählte auf türkisch, er sei „gefickt“ worden. So weit unbestritten.

Der Angeklagte schweigt zu allen Vorwürfen

In einer ersten Vernehmung hatte Achmed ausgesagt, mehrere Männer hätten sich an ihm sexuell vergangen. Später beschränkte er die belastenden Angaben auf den Angeklagten und bezichtigte einen weiteren Mann des Versuchs. Die Staatsanwaltschaft geht von drei Taten des vollendeten oder versuchten Analverkehrs aus. Zweimal soll sich Stefan H. dem Jungen durch ein Spiel genähert haben, bei dem er das Kind auf den Schoß nahm und ihm zu ratende Zahlen auf den Rücken malte. Ein weiteres Mal soll er sich beim gemeinsamen Baden in der Badewanne an ihm vergangen haben. Verletzungen im Analbereich waren bei ärztlichen Untersuchungen nicht festgestellt worden.

Bei seiner polizeilichen Vernehmung hatte Stefan H. eingeräumt, mit Achmed gebadet zu haben. Strategie der Verteidigerin Felicitas Selig – sie erreichte inzwischen immerhin, daß der Angeklagte nach annähernd sieben Monaten aus der U-Haft entlassen wurde – ist, Achmed als unglaubwürdig darzustellen: Aus Angst vor einer Bestrafung, weil er so lange nicht nach Hause gekommen sei, habe sich der Junge die Geschichte ausgedacht oder Erlebnisse mit dem Angeklagten falsch interpretiert. Die Verteidigerin benannte dafür Zeugen. Sie sollen bestätigen, daß der Junge häufig lüge, durch seine Erziehung zum islamischen Glauben unter einem erheblichen Schamgefühl leide, nackt baden für ihn gleichbedeutend mit Analverkehr sei und Begriffe wie „ficken“ zu seinem Wortschatz gehörten.

Ausführungen dazu machen sollten unter anderen die frühere Lehrerin des Jungen, seine Mutter und Schwester, Cousin und Tante sowie der Professor für Ethnologie an der Humboldt-Universität und Spezialist für den türkischen Kulturkreis, Werner Schiffauer. Außerdem forderte die Verteidigerin, die Glaubwürdigkeit von Achmed – der im Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen worden war – von einem zweiten psychologischen Sachverständigen testen zu lassen.

Der vom Gericht bestellte erste Gutachter, Max Steller, war nämlich zu dem Schluß gekommen, Achmeds Schilderung sei trotz „einer Fülle von Unklarheiten und Widersprüchen“ bezüglich des „Kerngeschehens“ absolut glaubhaft. Sich die Geschichte als Ausrede für sein Wegbleiben ausgedacht und bis heute aufrechterhalten zu haben hätte den Jungen überfordert, meinte Steller. Achmed sei ein Kind, das zu verwirrenden Äußerungen neige und keine große Phantasiebegabung habe.

Die frühere Klassenlehrerin beschrieb den Jungen als Kind, das viel Aufmerksamkeit brauche, in der Klasse immer das schwarze Schaf sei und daß er es mit der Wahrheit nicht so genau nehme. Auf die Frage, ob Achmed phantasievoll ist, sagte die Lehrerin: „Um Gottes willen, nein. Wenn er mir eine lange Geschichte zu irgend etwas erzählt hätte, hätte ich das als außergewöhnliches Ereignis empfunden.“

Daß sie von Verteidigerin Selig als Zeugin benannt worden war, war für die Lehrerin ein Gewissenskonflikt. Die Anwältin habe bei ihr zu Hause angerufen und sie über den Jungen ausgefragt. „Sie ließ mich lange Zeit in der Annahme, sie wäre die Anwältin von Achmeds Familie, irgendwann wurde mir bewußt, daß sie die Gegenseite vertritt.“ Über den Gebrauch des Wortes „ficken“ unter den Schülern sagte die Lehrerin, es werde von türkischen Schülern oft in ihrer Muttersprache verwendet: „Verfick dich!“ bedeute auf deutsch soviel wie „Hau ab!“.

Stefan H. kämpft verbissen um seinen Freispruch und befragt die Zeugen bisweilen stundenlang. Wenn er meint, ihnen Widersprüche entlockt zu haben, wendet er sich triumphierend zu seinen Freunden im Zuschauerraum und wird beklatscht. Statt den Prozeß souverän zu führen, droht das Verfahren dem Vorsitzenden Richter Handke zu entgleiten. Erst dämmert er auf dem Richterpodium vor sich hin, statt einzugreifen, wenn der Angeklagte wieder unzählige Wiederholungsfragen stellt. Dann fährt er Stefan H. cholerisch an: „Wie lange soll ich mir das Gemähre eigentlich noch anhören?“ – und handelt sich damit natürlich prompt einen Befangenheitsantrag der Verteidigung ein.

Auch der 20jährigen Schwester und der Mutter von Achmed ersparte der Angeklagte nichts, indem er sie zu Tabuthemen wie Sexualität befragte. Und das, obwohl die in weite, lange Kleider und Kopftücher gehüllten Frauen darunter litten, noch einmal mit dem Geschehen konfrontiert zu werden. Insbesondere die Mutter ließ keinen Zweifel daran, daß sie die Sache am liebsten auf sich beruhen lassen würde. Mit einer Geste, als umarme sie ihren Jungen, beteuerte die 45jährige Hausfrau auf türkisch mehrfach, sie glaube nicht an das, was Achmed gesagt habe. „Ich will nichts mehr. Ich bin nicht zerstritten mit den Deutschen.“ Andernfalls hätte sie damals auch keinen Tee gekocht – noch einmal brauche ihr Sohn zu „diesen Hippies“ nicht zu gehen.

Ob der Junge über Sexualität Bescheid wisse, wollte Stefan H. von der Mutter wissen. „Nein, nicht“, wehrte sie ab. Ob er sich Nackte in der Zeitung angucke? „Das Kind ist doch noch klein, was soll er damit?“ stammelte die Frau. Wenn sie das Kind wasche, trage es immer „eine kurze Hose“. Die Schwester fragte er, was passieren würde, wenn in der Familie jemand homosexuell wäre? Nach einer kurzen Pause sagt sie: „Die ganze Familie würde daran arbeiten, daß er es nicht mehr ist.“

Aber auch Freunde des Angeklagten wurden von der Verteidigung als Zeugen benannt. Ein Mann, gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten sexuellen Mißbrauchs von Achmed anhängig war, weigerte sich jedoch, Fragen des Vorsitzenden zu beantworten. Denn das Gericht sei voreingenommen und sehe jede zwischenmenschliche Handlung gleich als sexuellen Mißbrauch an.

Basiert der Prozeß auf einem Kulturkonflikt?

Droht der Angeklagte etwa das Opfer eines Kulturkonflikts zu werden, wie die Verteidigung anzuführen versucht? War das gemeinsame Bad ohne die gewohnte kurze Hose für Achmed so ein Tabubruch, daß er dies mit einem homosexuellen Akt gleichsetzte? Warum ist der Elfjährige bis zur Entdeckung durch den Cousin in der Reichenberger Straße geblieben, wenn er dort sexuell mißhandelt worden ist?

Zumindest für eine dieser Fragen hatte ein als Zeuge vernommener erfahrener Kripobeamter eine schlüssige Anwort. Daß Kinder trotz sexueller Handlungen bei Pädophilen blieben, „ist bisweilen ganz normal“. Denn ihnen würde dort in der Regel mehr Aufmerksamkeit zuteil als von den Eltern: Sie bekämen Geld, Spielzeug und Süßigkeiten. „Ich nehme an“, wandte sich der Beamte direkt an den Angeklagten, „daß Sie einen guten Kontakt zu dem Jungen hatten.“ Der Prozeß wird am kommenden Dienstag mit der Vernehmung weiterer von der Verteidigung benannter Zeugen fortgesetzt.

* Name von d. Red. geändert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen