Wehe Weihnacht

Stille Nacht, Heilige Nacht – bis es kracht / Für viele Erwachsene ist das Friede-Freude-Eierkuchen-Fest schon lange vorher ein Grund für Depressionen / Ein Rundruf bei Beratungsstellen  ■ Von Petra Brändle

Es war einmal und ist noch immer: eine Legende. Die Legende von der Heiligen Familie. Mit Weihnachten gedenkt man ihrer, dem Fest der Familie, der Liebe, der Freude. Trautes Heim, Glück allein. Glocken klingen, Sternlein stehen, still die Nacht und heilig.

Schön, der Schein, doch er trügt. Schon die Familie war keine, wenigstens nicht bei der Zeugung, der Vater ist nicht der Vater, obdachlos waren sie, hatten den Stall zum trauten Heim gemacht. Und der Sohn – mit zwölf wurde er trotzig, später rannte er weg, schließlich wurde er als Verbrecher gekreuzigt.

Eine leidensvolle Familiengeschichte, vom Vater hörte man auch nicht mehr viel. Nicht gerade vorbildlich. Trotzdem kopieren mehr oder weniger christliche Familien zum Jahresende dies Familienglück.

Doch mit der Harmonie klappt's bestenfalls für ein paar Tage, öfter jedoch sitzen sich abends gereizte Tigerfamilien am festlich gedeckten Tisch gegenüber. Später, am Gabentisch, zeugen Mißtöne gewiß nicht nur von mangelhaft ausgebildeten Gesangsstimmen. Wehe Weihnacht; Aufatmen nach den Feiertagen!

Ein Glück, wenn's bei geladener Spannung bleibt. Für viele aber ist Weihnachtszeit Krisenzeit...

„Auf jeden Fall ist die Weihnachtszeit eine Krisenzeit.“ An Weihnachten, wenn familiäres Glück und Harmonie als Norm verstärkt ins Gedächtnis gerufen werden, so Yann Seyrer vom Krisen- und Beratungsdienst in Schöneberg (K.u.B.), „spitzt sich das Gefühl der Ausgrenzung und Isolation besonders zu.“ Die Angst vor dem Alleinsein steigt gewaltig, genauso die Angst, der Norm nicht gerecht zu werden. Sein Beispiel: Drogensüchtige, die zu Weihnachten voller guter Vorsätze sind und doch wieder rückfällig werden, verzweifeln dann oft in ihrer „Sündenbockrolle“, die sie in ihrer Familie einnehmen. Wenn auch die TherapeutInnen außerdem über die Feiertage nicht erreichbar sind, „sacken viele Klienten zusammen“.

Ähnliche Tendenzen kennt man auch im Kriseninterventionszentrum des Klinikums Steglitz. Weihnachtszeit heißt hier „Stoßzeit“, sie bringt bei labilen Menschen das Faß zum Überlaufen. Mehraufnahmen zwischen zehn und zwanzig Prozent über dem Durchschnitt verzeichnet man hier in der psychiatrischen Abteilung während der Feiertage. Doch bereits im „depressiven November“, vor allem aber mit dem ersten Advent steigen die Aufnahmen meist weiblicher Patienten generell. In den Moabiter und Neuköllner Kriseninterventionsstationen dagegen sind die Feiertage eher ruhig; kurz zuvor jedoch und ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag brauchen überdurchschnittlich viele PatientInnen die professionelle Hilfe.

Krisen fast nur bei Erwachsenen

Auch hinsichtlich der Suizidrate scheinen die Feiertage eher ruhig zu sein: Wöchentlich nehmen sich in Berlin laut Aussagen des Statistischen Landesamtes (seit 1990) etwa elf Personen das Leben (sieben in Westberlin, vier in Ostberlin), zwischen dem 23. und 28. Dezember aber entschieden sich 1990 vier Personen für den Freitod, 1991 und 1992 je fünf.

Krisensituationen an Weihnachten, diesen Schluß läßt die auf den Erfahrungen der Befragten in den Beratungsstellen und Kliniken basierende Umfrage zu, spitzen sich seltener existentiell zu. Allerdings treten sie gehäuft auf, insbesondere bei Erwachsenen. Nicht selten wird aus der glückseligen Nacht eine weinselige, gerade in zerrütteten Ehen eskaliert dann oft die Gewalt. Deshalb sind Frauenhäuser seit Jahren über die Feiertage, vor allem am Ende, überbelegt. Sabine Schröder vom „Verein zum Schutz physisch und psychisch mißhandelter und bedrohter Frauen und ihrer Kinder“ sieht mangelnde Abwechslung und die mehrtägige ununterbrochene Nähe in der Familie als Auslöser für die Gewalt.

Kinder und Jugendliche hingegen wenden sich während der Feiertage auffallend selten an Beratungsstellen. Die Feiertage und die Zeit bis Mitte Januar sei extrem ruhig, so die Auskunft des Kindernotdienstes und der telefonischen Beratungsstellen für selbstmordgefährdete Kinder und Jugendliche in Friedrichshain und Wilmersdorf. In Wilmersdorf stellte man den Extranotdienst über Weihnachten längst ein, dafür aber leisten die BeraterInnen derzeit das Doppelte. Gabi Härter erklärt sich die Ruhe damit, daß Kinder die Familiennähe während der Feiertage und damit die größere Zuwendung im ersten Moment sehr positiv einschätzen – selbst dann, wenn diese Zuwendung „negativ zu definieren ist“, wenn es also zu Streit, ja sogar zu Schlägen kommt. Erst wenn sich der Versuch des harmonischen Familienlebens als Schein entpuppt, ist mit einer „Hochzeit der Krisen“ bei Kindern und Jugendlichen zu rechnen. Weihnachtsspezifisch seien diese Krisen, im Gegensatz zu denen der Erwachsenen, nicht, so Härter. Schulschwierigkeiten, die (drohende) Trennung der Eltern, ein Umzug, Einsamkeitsgefühle und Liebeskummer, das sind die Gründe, weswegen die Kinder und Jugendlichen in der Beratungsstelle anrufen.

Glaubt man den Auskünften der Mitarbeiterinnen in einem Pankower und Kreuzberger Seniorenheim, dann ist auch bei den älteren Menschen zu Weihnachten kein Stimmungstief festzustellen. Für jene, die im Heim bleiben, singt die Chefin der Alten- und Pflegeheim GmbH, wer soll da schon traurig werden? Dr. Seyrer von der K.u.B. sowie die Mitarbeiter der Kriseninterventionsstation Steglitz jedoch entdecken bei älteren Menschen eine größere Scham, um seelischen Beistand zu bitten. Notrufe treffen hier, wenn überhaupt, nur verschlüsselt ein, beispielsweise als Klage über stundenlangen Lärm im Haus. Laut Seyrer oft ein verzweifeltes Signal der Einsamkeit.

Richtig froh und munter scheint es am 24. hingegen in der Bahnhofsmission zuzugehen. Bei „wilden Chansons“ zu Gitarrenklängen, Würstchen und Marzipan, Zigaretten und ein bißchen Glühwein wurde letztes Jahr „sehr schön gefeiert. Sehr fröhlich, auch ein bißchen nachdenklich – aber traurig, depressiv? Nein.“ Eine tiefe Solidarität habe die 100 bis 150 Obdachlosen verbunden und gewärmt, so Corinna Friedel.

Für einen Abend. Mission erfüllt.