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Niemals konsequent, aber das radikal

Lose zusammenhängende Nachgedanken zu Helmut Salzinger, Stadtmensch, Landmensch, „Aussteiger“, Intellektueller, Gärtner  ■ Von Mathias Bröckers

Für 3,80 Mark gab es Anfang der siebziger Jahre ein kleines Fischer-Taschenbuch – „Swinging Benjamin“ – das seinen Lesern den Philosophen Walter Benjamin zuerst einmal mit zehn Seiten Intimklatsch näherbrachte: über Frauen und Freunde, Lebens- und Liebesgewohnheiten, Reise- und Rauschgiftlust, Aussehen und Charakter – und seinen letzten Wunsch: „Einmal wieder auf einer Caféterrasse sitzen und die Daumen drehen – das ist alles, was ich mir noch wünsche.“

Lief schon dieser private, persönliche Einstieg der weihevoll geschraubten Benjamin-Interpretation entgegen, so brachte das folgende die Verweser der Kritischen Theorie erst recht aus dem Häuschen: der Vorwurf, Benjamin sei von seinen posthumen Editoren und Interpreten sowohl der undogmatische Marxismus als auch die undogmatische Bejahung der Technik und der Medien ausgetrieben worden, um ihn der Frankfurter Schulordnung kompatibel zu machen. Von „empörend“ bis „vulgär“ reichen die Invektiven, die gegen das Buch geschleudert wurden – gerade mal 1.100 Stück werden verkauft. Und doch kenne ich Leute, die sich in der Folgezeit aus den Antiquariaten den „Swinging Benjamin“ gleich mehrfach auf Halde legten – nicht aus Sammelleidenschaft, sondern zur Weitergabe an den intellektuellen Nachwuchs.

Dieser ist seit 1990 nicht mehr auf aufmerksame Archivare angewiesen, im Hamburger Kellner- Verlag wurde das Buch 1990 wieder aufgelegt. Sein Autor, Helmut Salzinger, ist vergangene Woche 57jährig gestorben – nahezu zeitgleich mit Frank Zappa, einem Verwandten nicht nur im Geiste, sondern auch in der Intention. „Helmut Salzinger, in den sechziger Jahren Vertreter der hedonistischen Linken Internationalen. Verfocht mit seinen Büchern „Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution?“, „Swinging Benjamin“ und „Jonas Überohr Live“ den kulturrevolutionären Anspruch der Alternativbewegung als grundlegende Vor-und Wegbereitung der kommenden historischen Umwälzungen. Macht in seinen neuen, im eigenen Verlag (HEAD FARM ODISHEIM) herausgebrachten Gedicht- und Bilderbüchern „Die Freundlichkeit der Kraft“ und „Gehen, Schritt die Probe auf's Exempel der Bewußtseinsveränderung“: – Poesie“.

So lautete 1982 eine Selbstbezichtigung in „Rock um die Uhr – Kleine Schriften zur Musik und Gegenkultur“ – Bezichtigung, weil sie zu diesem Zeitpunkt als gescheitert galt, die „Gegenkultur“ der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. „Die Frage ist halt, ob dieses Ding... je existiert hat, Gegenkultur, oder ob sie immer bloß ein Traum war. Aber wieso – bloß – ein Traum? – Hoffentlich findest Du etwas für Dich darin“, schrieb er mir damals. Was ich gefunden habe, damals und auch jetzt beim Wiederlesen seiner Bücher, ist: Es gab sie nicht nur, diese Gegenkultur, ihre Ideale sind bis heute sogar die einzige Alternative geblieben. Auch wenn die Protagonisten von einst natürlich längst Teil des Problems sind, als dessen Lösung sie sich einst ausgaben. Aber so ist er halt, der Fortschritt in der Evolution: Was gestern noch umwerfend, welterschütternd, revolutionär war, ist heute wieder mal nur ein winziger Schritt vorwärts.

„Woodstock Nation bedeutet den Versuch, Alternativen zum schlechten Bestehenden zu entwickeln und die Veränderungen hier und jetzt in Angriff zu nehmen. Woodstock Nation bedeutet, die Lücken und Schwächen des Systems auszunutzen, wo und wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Woodstock Nation bedeutet, daß jeder für sich selbst, aber zusammen mit den anderen das System untergräbt ... Woodstock Nation ist ein Vorgriff auf die befreite Gesellschaft, ist der Beginn der Revolution. Denn die Revolutiuon braucht keineswegs auf den Tag verschoben zu werden, an dem die Arbeiterklasse zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen ist.“

Solche als Rezension getarnten Yippie-Manifeste ihres Literaturkritikers Dr. Salzinger wollte die die Zeit 1970 nicht mehr drucken – heute, 25 Jahre nach Woodstock, ist klar warum: es war tatsächlich eine Kultur-Revolution, die sich da 1965 ff angebahnt hatte. Mit neuen Medien – der E-Gitarre, der Schallplatte – hatte es eine junge Generation geschafft, sich einige kurze Sommer lang zu artikulieren wie keine Jugend-Generation zuvor. Und plötzlich waren die neuen Ideen überall – schneller, als die Kulturindustrie hinterherkam.

Das gab und gibt zu Hoffnungen Anlaß. Auch im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit gehört das Kunstwerk nicht dem Reich des Faschismus an, wie Adorno insistierte, sondern konnte mit elektronisch verstärktem Beat die Kultur voranbringen. Wenn auch nur ein winziges Stück. Den eigentlichen Schritt muß jeder selbst tun: „Woodstock Nation trägt dazu bei, den Vorgang dieser Bewußtwerdung überhaupt erst in Gang zu setzen, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß ihre Bürger darauf verzichten, programmatisch mit Mao-Bildern herumzulaufen, dafür aber sich selbst und die anderen antörnen, in ihrem eigenen Kopf aufzuräumen ...“

Helmut Salzingers Aufräumarbeit fand hinter den Deichen zwischen Weser und Elbe-Mündung statt, beim Aufenthalt unter freiem Himmel und im Garten. Ein Stadtmensch und Intellektueller, der aufs Land geht, um Selbstversorger zu werden – das kann nur schiefgehen. Dieses Scheitern hat Salzinger in seinem letzten Buch „Der Gärtner im Dschungel“ (1992) beschrieben – und auch den fundamentalen Erkenntnisgewinn, die Neu- und Umbewertung seiner politischen und kulturkritischen Ansichten. Indem er sich der Natur, der Erde zugewandt hatte, entdeckte er eine neue Dimension der Unterdrückung: „Auf der Erde ist jeder menschliche Zugriff ein Angriff... Und im Garten speziell bedeutet jeder Handgriff nicht nur Eingriff, sondern zugleich auch Übergriff. Jede Pflegemaßnahme bewirkt Störung und Zerstörung – neben aller Pflege. Wenn ich das total verunkrautete Stück der Himbeeren säubere, damit Licht und Luft herankommen und der Boden abtrockne, dann rennen auch hier nach allen Seiten Spinnen und Käfer weg. Der Igel sieht sich entdeckt, und die Braunnelle wippt nicht mehr auf den Stützdrähten für die Himbeerranken. Überall – wörtlich: überall lebt irgendwer. In diesem Sinne ist praktisch der gesamte Planet Erde von einer wimmelnden Hülle aus Leben umgeben, und da ist es unausweichlich, daß einer, wohin er tritt, einen anderen tottritt, jedenfalls als Mensch, zumindest tendenziell. Wer dabei nicht mittun will, wird es schwer haben in seinem Leben.“

Die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen ist nur eine Funktion der viel tiefer gegründeten Unterdrückung der Natur durch den Menschen. Diese Lektion zu kapieren bedeutet, vom Herrn und Meister der Natur zu einer Mitkreatur, vom Übermensch zu einem Lebewesen unter anderen zu werden.

So wenig Salzingers kulturkritische Essays dem Mainstream der Siebziger entsprachen, so wenig bedienten seine zivilisationskritischen Überlegungen die Öko-Schmusewelle der Achtziger, den naiven Glauben an eine Rettung durch Umwelt-Technik, die bloß richtig eingesetzt werden muß – und alles wendet sich zum Besten. Salzinger hatte keinen grün getünchten Seelenfrieden zu verkaufen – ohne Bewußtseinsveränderung, ohne radikale Umwertung aller Werte und vor allem seines, des Menschen, Wert als „Maß aller Dinge“ – muß jede globale Versöhnung mit der Natur ein frommer Wunsch bleiben: „Es geht um nichts weniger als um die Verabschiedung des Menschen aus der Geschichte.“

„Ohne Menschen“ hießen die „Erzählungen einer Landschaft“, die Salzinger 1988 veröffentlichte – kurze, beschreibende Prosastücke über den Wind, den Himmel, die Gräser und Bäume – und ihre nicht-menschlichen Bewohner. Kein misanthropischer Pessimismus à la Cioran und auch kein plattes Plädoyer gegen den Anthropozentrismus, das als einzig wirksamen Naturschutz die Selbst-Abschaffung des „Krebsgeschwürs Mensch“ fordert. Salzingers praktischen Erfahrungen mit Un-Kraut und Un-Geziefer, mit der wuchernden und wimmelnden Intelligenz der Biosphäre, führten vielmehr einfach zu dem Schluß, daß es mit der Intelligenz des Menschen nicht sehr viel weiter her ist als mit der einer Laus. Und daß er nur überleben kann, wenn er sich seiner Läusehaftigkeit wieder erinnert.

„Seither ist immer was los, selbst wenn nichts geschieht. Mein Zeitgefühl hat sich verändert. Zeit ist ein gleichmäßiger Fluß geworden ... Mein Blick weitet sich, ich bekomme ein Gefühl für natürliche Rhythmen. Das Jahr schließt sich zu einer zyklischen Einheit zusammen, einer Vegetationsperiode von Wachsen, Vergehen und Ruhe. Dann eine neue Runde. Jede Pflanze nimmt daran teil, und ich nehme allmählich wahr, daß auch ich selber, wenn ich es nur zulasse, an diesem rhythmischen Kreislauf beteiligt bin. Ich gehe zwischen den Lebewesen im Garten herum und habe gelegentlich das Gefühl, selber ein solches Lebewesen zu sein. Ein Wesen wie alle, von ihrer Art und Natürlichkeit. Das Empfinden, das sich dabei zuweilen einstellt, erinnert mich an so etwas wie Glück“.

Als Gärtner im Dschungel ist Helmut Salzinger nun nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit dem Körper in den Rhythmus seines Gartens eingegangen – Kompost für eine „neue Runde“. Daß auch das, was er als Schriftsteller hinterlassen hat, nichts anderes ist als ein Haufen fragmentarischer Mist – ein solcher Nachruf wäre für jeden anderen Dichter und Denker beleidigend. Helmut Salzinger hätte ihn als Kompliment verstanden. Denn nur aus dem Mist wächst etwas – in der nächsten Runde. Wertvollere Muttererde für produktive, unruhestiftende Gedanken als Salzinger wird sich in Zukunft kaum finden lassen.

Essays:

Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution, 1972/1982

Swinging Benjamin 1973/1990

Nackter Wahnsinn – Die Wirklichkeit und die Suche nach ihr zwischen Konsens und Nonsens, 1984

Der Gärtner im Dschungel, 1992

Lyrik:

Gehen/Schritte, 1979

Das lange Gedicht, 1982

Rock um die Uhr, 1982

Irdische Heimat, 1983

Stille Wasser, 1987

(Alle Verlag Michael Kellner Hamburg)

Ohne Menschen – Erzählungen einer Landschaft, 1980, Verlag Medienexperimente

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