: Klassisch, kritisch oder wild
■ Wie jedes Jahr sind Weihnachtsmärchen Trumpf / Einige Empfehlungen für alle Altersklassen Von Andrew Ruch
Es ist die Zeit, in der die Kinder weniger geschlagen werden, man auf Tankstellen Kalender geschenkt bekommt, gebratenes Federvieh mit Obst gefüllt wird und die ganze Familie in die Kirche geht: Weihnachten.
Alles Dinge, die sonst das ganze Jahr über niemand macht, die aber in Erwartung des „Heiligen Festes“ ein „MUSS“ sind. Dazu gehört für viele auch der vorweihnachtliche Theaterbesuch. Frei nach dem Motto: Die Kinder sehen eh' zuviel Fern, also muß ein bißchen Kultur her. Doch auch die Visite eines Theaters will überlegt sein. Die Hamburger Bühnen stellen sich zwar alljährlich auf den Weihnachts-Trend ein und fast alle buhlen um die Aufmerksamkeit der Erziehungsberechtigten, doch nicht alles ist für jedes Alter geeignet. Denn neben persönlichem Anspruch und Geschmack sollte auch die geistige Reife eines Kindes beachtet werden. Nicht nur wegen der Komplexität einiger Inszenierungen, sondern weil im dreidimensionalen Theater alles plötzlich viel realistischer wirkt als im Fernsehen. Steigt Angst auf, ist eine Fernbedienung zum Umschalten nicht vorhanden und auch verstecken oder eine Kommunikation mit den Eltern muß oft ausbleiben, schließlich hat man im Theater leise zu sein. Plötzlich einsetzendes Gewittergrollen, zuckende Lichtblitze oder unheimliche Kostümierungen lassen schnell so manchem Knirps das Herz in die Hose rutschen.
Doch wohin gehen? Ins klassische, harmlose Märchen wie Froschkönig, Dornröschen oder Schneeweißchen und Rosenrot? Oder lieber etwas modernes wie Der Zauberer von Oz oder Kiebich und Dutz? Das Kind soll kritisch erzogen werden? Bitte schön: Robinson und Crusoe setzt sich mit der Fremdenfeindlichkeit auseinander.
Aber bitte ehrlich sein und die eigenen Kinder nicht hochstilisieren. Bei der Premiere von Der Zauberer von Oz im Thalia Theater zum Beispiel hatten einige Eltern den Entwicklungsstand ihrer Kinder kräftig überschätzt: Schon nach etwa fünf Minuten trug ein Vater aus der ersten Reihe seinen schluchzenden Sohn heraus, und ein kleines, fünfjähriges Mädchen wollte beharrlich nach Hause gehen.
In erster Linie jedoch ist die Geschichte von Dorothy (Cornelia Schirmer), die in das Reich des Oz verschlagen wird, eher lustig. Besondere Freude kommt auf, wenn die Hexe des Westens (Sandra Flubacher) in ihre Hand spuckt und aus dem schleimigen Klumpen weise Ratschläge für Dorothy liest. Das Mädchen soll den Zauberer von Oz suchen, weil nur dieser ihr helfen könne, wieder nach Hause zu kommen. Auf der Reise dorthin lernt sie einige skurrile Gestalten kennen: Zum Beispiel den Löwen, der soviel Angst hat, obwohl er doch der König der Tiere ist und besonderen Mut haben müßte. Den Kindern ist er durch seine Furcht natürlich doppelt sympathisch. Ein unterhaltsames Stück, jedoch sollte das Kind das 8. Lebensjahr vollendet haben.
Ist der Zögling noch klein? Auch hier kann geholfen werden. Dornröschen zum Beispiel, das heuer gleich zweimal im Angebot ist und schon für die Allerkleinsten geeignet sein soll. Das St. Pauli Theater spricht von „ab drei bis vier Jahren“ und das Theater für Kinder meint „so ab fünf.“ Die „Lütten“ haben aber zum Teil arge Schwierigkeiten, eine anderthalbstündige Vorstellung durchzustehen - auch wenn eine Pause dazwischen liegt. Das Theater für Kinder empfiehlt deswegen bei den ganz Kleinen unbedingt vorher über das Stück zu sprechen, damit sie auch folgen können.
Trotz des gleichen Titels sind die Inszenierungen extrem unterschiedlich: Im Theater für Kinder heißt Dornröschen Aurora und es wird Ballett zu der Musik von Tschaikowsky getanzt. Im St. Pauli Theater führt der Frosch Quaki durchs Programm - unterstützt von einem Nachfahren des Katers Mikesch. Zum Schluß mischt sogar noch der Weihnachtsmann mit, weil dieser Dornröschen 100 Jahre keine Geschenke bringen konnte. Gemeinsam ist beiden Stücken, daß Dornröschen mit 113 oder 114 Jahren von einem Prinzen gefreit wird. Alles nicht besonders originalgetreu, doch das ist Geschmackssache. Wie auch der McDonalds Gutschein auf der Rückseite der Eintrittskarte des St. Pauli Theaters.
Eine ganz andere Idee hatte F.K. Waechter: In seinem Stück Kiebich und Dutz, das derzeit im Schauspielhaus läuft, geht es ums Alleinsein und Freundschaft, um die Verlockung und um Mut und Angst. Zwei Jungen, der eine gerade geboren, der andere schon „groß“ und neugierig, entdecken die Welt und erleben dabei allerlei Merkwürdiges. Leider ist das Stück recht langatmig und in einigen Teilen nicht leicht zu verstehen, so daß selbst Zuschauer ab den empfohlenen acht Jahren Schwierigkeiten haben können. Durch die liebenswerte Darstellung von Michael Altmann (Kiebich) und Hans-Werner Kraehkamp (Dutz) bleiben aber die meisten Kinder bei der Sache und sind doch recht zufrieden mit der Baseler Inszenierung.
Eine Wiederaufnahme ist die Geschichte von Robinson und Crusoe des Jugentheaters auf Kampnagel. Zwei feindliche Soldaten treffen sich in der Wüste. Sie bekämpfen sich zunächst und foltern sich gegenseitig. Haß und Vorurteile bestimmen den Alltag. Doch irgendwann erkennen sie, daß sie miteinander auskommen müssen, wenn sie überleben wollen. Zum Schluß spielen die beiden sogar zusammen, können nicht mal mehr einer Maus etwas zuleide tun. Man kann geteilter Meinung sein über Kindertheater, das eine Botschaft vermitteln soll, doch in diesem Fall besitzt die Geschichte auch einen hohen Unterhaltungswert und es wird nicht drohend der Zeigefinger erhoben. Das Stück ist leicht verständlich (ab acht Jahre). Auf Wunsch kann nach der Aufführung sogar ein Gespräch mit den Darstellern arrangiert werden.
Ob Weihnachten oder nicht, eine Bühne sollte jedes Kind mal mit eigenen Augen gesehen haben. Ob gutes oder schlechtes Theater - letztendlich soll es den Kindern gefallen. Und trotzdem: Hoffentlich betreten nicht eines Tages Super Mario und Ronald McDonald die Bretter, die die Welt bedeuten.
Der Zauberer von Oz, Thalia Theater, noch bis 30. Dezember.
Kiebich und Dutz, Deutsches Schauspielhaus, noch bis Ende Januar 1994.
Dornröschen, St. Pauli Theater, bis 23. Dezember.
Dornröschen, Theater für Kinder, bis Ende Januar 1994.
Robinson und Crusoe, Jugendtheater auf Kampnagel (JAK), Halle 4, Tel: 27 09 49 19, bis 21. Dezember.
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