piwik no script img

Mit hanseatischer Diskretion

Gestern vor 60 Jahren wurde die kulturwissenschaftliche Bibliothek Aby Warburgs per Dampfer von Hamburg in ihr Londoner Exil verfrachtet  ■ Von Kai Voigtländer

Es war ein leiser Abschied. Am 12. Dezember 1933 verließen zwei Frachter der Hamburg-Amerika- Linie den Hamburger Hafen. Ihr Ziel: London. An Bord hatten die beiden Dampfer „Jessica“ und „Hermia“ eine ganze Bibliothek. Verstaut in 531 Kisten, wurden rund 60.000 Bücher über den Kanal verfrachtet, dazu eine Bildersammlung von 25.000 Fotografien, Dias, Skizzen und Zeichnungen, dazu Bücherregale, Karteikästen, Kataloge, Lesetische und Lampen, Geräte zum Reproduzieren von Bildern, Buchbinderleim und Einbanddeckel. Die „Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg“, kurz K.B.W. genannt, ging ins Exil. Mit der Bibliothek emigrierten ihr Buchbinder Otto Fein und ihr Bibliothekar Hans Meier, ins Exil gingen die WissenschaftlerInnen, deren Arbeiten den Ruf der K.B.W. begründet hatten: die Kunsthistoriker Gertrud Bing, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Edgar Wind, der Philosoph Ernst Cassirer und viele andere. Die Hamburger Gelehrtenrepublik, die sich in den wenigen Jahren ihres Bestehens um die K.B.W. und ihren 1929 verstorbenen Gründer Aby Warburg versammelt hatte, rettete sie vor dem Scheiterhaufen und gab damit gleichzeitig das Signal für den Exodus der kritischen Kunstwissenschaft. Mit der Bibliothek verschwand ihre Idee aus Deutschland – die Idee einer interdisziplinären Kulturwissenschaft, die Kunstwerke nicht als zeitlose Manifestationen des Schönen betrachten, sondern das Universum der Bilder als Ausdrucksform von Mentalitäten, Interessen, sozialen Strategien und seelischen Befindlichkeiten analysieren wollte.

Die Ausreise war mit hanseatischer Diskretion eingefädelt worden. Im Sommer 1933 knüpften Saxl und Wind Kontakte nach Holland, Israel und England. Die Wahl fiel schließlich auf London: dort gab es Räumlichkeiten für den Bestand der Bibliothek, dort stand auch genügend Geld für die Weiterarbeit an den kulturwissenschaftlichen Forschungen zur Verfügung. Außerdem schien England den besten Schutz vor den Eroberungsgelüsten der Nazis zu bieten. Für die Finanzierung des Umzugs sorgten die in Amerika lebenden Bankiersbrüder Aby Warburgs. Die Hamburger Verwaltung spielte mit: die „Behörde für Kirchliche und Kunst-Angelegenheiten“ signalisierte der Familie, sie werde von der Übersiedlung keine Notiz nehmen, die zudem als eine auf drei Jahre befristete Ausleihe der Bibliothek nach London deklariert war. Im Gegenzug versprach die Familie, sie werde den Exodus der Bücher publizistisch nicht ausschlachten – weder in Hamburg noch in London. Erst Wochen später machte ein Artikel im Hamburger Israelitischen Familienblatt auf den Umzug der Bibliothek aufmerksam – da waren Bücher und Bilder längst in Sicherheit. Das Lebenswerk Aby Warburgs residierte nun im Thames House, London S.W. 1.

Die Entscheidung für die Bücher – und gegen ein Leben in den vorgezeichneten Bahnen als Rabbiner oder Junior-Bankier – hatte der 1866 geborene Aby Warburg früh getroffen: im Alter von 13 Jahren verkaufte er dem jüngeren Bruder Max sein Erstgeburtsrecht und verlangte als Gegenleistung, sein Bruder solle ihm immer alle Bücher kaufen, die er brauche. Max Warburg stimmte zu – und bemerkte später, dies sei der wohl teuerste Blankoscheck seines Lebens gewesen. Bruder Aby wurde Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler – ein Privatgelehrter, dessen Horizont von ethnologischer Feldforschung bei amerikanischen Indianern bis zu den astrologischen Weissagungen der Reformationszeit reichte, von der Bildwelt florentinischer Hochzeitstruhen bis zum Nachleben des antiken Gestenrepertoires auf Briefmarken und Reklamezetteln.

In detailbesessenen philologischen Untersuchungen unterfüttert Warburg die traditionell bloß stilkritische Bildbetrachtung seiner Zunft mit Methoden und Themen der Psychologie, der Soziologie, der Wirtschaftsgeschichte. An der Renaissancekultur in Florenz entwickelt er seinen analytischen Blick. Wo seine Zeitgenossen die Geburtsstunde des selbstbewußten Individuums feiern, da fördert er Brüche, Widersprüche und Spannungen zu Tage. Aus den Inventarlisten und der Geschäftskorrespondenz des Medici-Haushaltes rekonstruiert er eine erstaunliche Vorliebe der florentinischen Bürger für die gotische Ritterkultur. In den flatternden Gewändern, dem wehenden Haar junger Frauen, die auf Renaissance-Gemälden als Randfiguren durchs Bild eilen, liest er den Ausdruck emotionaler Energien, die sich in der sittenstrengen Enge des christlichen Kaufmannslebens ein Ventil suchten. Die rhetorischen und gestischen Muster solcher seelischen Entladungen fanden die Künstler der Renaissance – Warburgs weitreichendste Entdeckung – im Formenrepertoire der Antike, in Skulpturen, Triumphbögen und Sarkophagen. Hier schien ihm ein Bilder- und Erfahrungsschatz gespeichert, aus dem spätere Kulturen und Gesellschaften immer wieder schöpfen konnten. Ein soziales Gedächtnis, mit dessen Hilfe sich heftige Ängste, Leidenschaften und atavistische Triebe ausdrücken, ausleben und im Ausdruck zugleich bannen und entmächtigen ließen.

Für den Kulturwissenschaftler Aby Warburg bedeutete die ambivalente Macht, die er der Sprache der Bilder zuschrieb, weit mehr als nur ein kunsthistorischer Paradigmenwechsel: daß Vernunft und Selbstdistanz immer wieder erobert werden müssen, war eine existentielle Erfahrung für den schon seit seiner Jugend von Ängsten, Phobien und Depressionen gequälten Gelehrten. Am Ende des Ersten Weltkrieges stürzte er für mehrere Jahre in die Distanzlosigkeit akuter Psychosen und Wahnvorstellungen. Erst 1923 hatte er sich seinen Denk-Raum zurückerobert. Mitverantwortlich für seine Genesung war auch die rasche Entwicklung seiner vor dem Krieg noch halb privaten Bibliothek zu einem Forschungsinstitut von internationalem Rang.

Konsequent hatten Warburg und seine Mitarbeiter Bücher, Bilder und Flugschriften zum zentralen Thema seiner Untersuchungen – dem Nachleben der Antike – zusammengetragen. Dank der Unterstützung seiner Brüder konnte Warburg 1926 ein eigenes Bibliotheksgebäude einweihen. Auf dem Grundstück neben seinem Wohnhaus in der Heilwigstraße 116 stand nun ein höchst individuelles, eigensinniges Forschungsinstrument, das Literatur nicht nur sammelte, sondern in der Ordnung der Bücher die Fragestellung des Instituts wiederholte. Denn Aby Warburg sortierte die Bücher nicht nach einer abstrakten Systematik, sondern nach dem „Gesetz der guten Nachbarschaft“; forschende Leser sollten nicht nur das gesuchte Buch aus dem Regal ziehen, sondern auch in den Nachbarbüchern blättern – in der Annahme, darin fände man die eigentlich interessanten Neuigkeiten.

Mehrfach ordnete Warburg die Buchbestände um – Ausdruck der fortdauernden Bewegung seines Denkens. Auch die räumliche Gestaltung der Bibliothek war mit Sinn und symbolhaften Bedeutungen aufgeladen: der Lesesaal hatte die Form einer Ellipse; so machte Warburg sichtbar, daß menschliche Existenz nicht um einen Mittelpunkt zentriert ist, sondern im Spannungsfeld zweier Pole und Kraftfelder steht. Die Bibliothek als moralische Anstalt – ein Mittel der Selbsterziehung, ein Gleichgewichtsorgan für das stets gefährdete Leben ihres Gründers. Warburg hat seine Bibliothek der Mnemosyne, der Erinnerung, mit einer Portalinschrift gewidmet. Doch im Deutschland des Jahres 1933 hatte die Erinnerung an Rettungsbilder und visuelle Strategien der rationalen Angstbewältigung keinen Ort mehr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen