: Serie: Die Krise der Universitäten (vierte und letzte Folge) / In der Logik des Wissenschaftssenators besteht die Lösung der Universitäten in der Verschärfung ihrer Probleme und einer gezielten Kapazitätsvernichtung Von Bodo von Greiff
Das Chaos als Reformstrategie
Vier Personen möchte ich erklären, was die gegenwärtige Hochschulsituation in Berlin ausmacht: Zwei Studenten im ersten Semester, deren Mentor ich bin; einem neuberufenen Professor an der Freien Universität; und meinem Freund und Nachbarn, der im Diebstahlsdezernat der Kripo arbeitet. Letzterer fragte mich am 9.Dezember überrascht: „Wohin des Wegs so elegant?“ Meine Antwort: „Zur Demonstration der Universitäten.“ Doch die Nachfrage des Kriminalhauptkommissars, „was gibt es da schon wieder?“, konnte ich nur schwer beantworten. Überlast, BerlHG, NC- Urteil, Regelstudienzeit, Hochschulstrukturreformkommission – man muß Fachmann sein wie Uwe Schlicht vom Tagesspiegel, um die fatale Mischung aus Chaos und Administration zu verstehen, die den Geist der Universität heute gefangenhält. Konzentrieren wir uns also auf das Wesentliche, behandeln wir drei Fragen:
Erstens: Was ist der tiefere Grund der neuen akademischen Einheit in Berlin? In der Tat, Wissenschaftssenator Manfred Erhardt hat es beharrlich geschafft, die drei großen Universitäten zusammenzuschmieden, quer durch alle Gruppen und Fraktionen. Professoren, Präsidenten, Dekane, Studenten, Assistenten, sie alle stehen wie ein Mann und eine Frau gegen die Hochschulpolitik des Senats. Der Wissenschaftssenator will aufräumen an den Massenuniversitäten. Er tut es auf seine bewährte Art mit einer Kaskade von Richtlinien und angedrohten Eingriffen und setzt damit die Strategie der Verunsicherung, Brüskierung und staatlichen Infantilisierung fort, die seit bald zwei Jahrzehnten zur deutschen Hochschulpolitik gehört wie das Geweih zum Hirsch. Reformieren und Gegenreformieren ist ihr Inhalt geworden, vulgo das Herumdoktern ohne Konzept. Novellierungen und Gesetze aller Art sind über die deutschen Hochschulen wie ein Monsunregen niedergegangen, unterbrochen nur von kurzen Ruhephasen, in denen die Bildungsstrategen Urlaub machten oder krank waren.
Der Historiker Jürgen Kocke berichtete jüngst in einem Zeitungsbericht von mehr als 1.500 gesetzlichen Bestimmungen, die in den letzten 20 Jahren die deutschen Universitäten zugedeckt haben. Das Resultat: „...der innere Zusammenhalt der Kollegialorgane, Fachbereiche und Universitäten (wurde) erheblich geschwächt, bisweilen paralysiert – mit der Folge des massenhaften Rückzuges der Universitätsangehörigen aus der Selbstverwaltung, abnehmender universitärer Handlungsfähigkeit und Verstärkung eines Vakuums, in das einzugreifen sich die staatlichen Organe nun erst recht bemüßigt fühlen.“ Der Tagesspiegel, 28.11. 1993.
In Hunderten von Sitzungen ist das wissenschaftliche Personal, über immer neuen Staatsauflagen brütend, grau geworden, es hat sich erschöpft aus der Hochschulpolitik zurückgezogen, abgesehen von einigen Aktivisten in den Präsidialämtern, die im Dschungel der Bürokratie wie Partisanen ums Überleben der Universitäten kämpfen. Das ist ein Grund der akademischen Einheitsfront an den Universitäten.
Zweitens: Was ist der Sinn der ewigen Erlasse, der nimmermüden bürokratischen Phantasie? Zur Massenuniversität gehört der permanente staatliche Versuch, ihre zwangsläufig sich einstellenden Probleme zu bewältigen ohne Geld auszugeben. Je mehr der Staat damit scheitert, um so mehr fühlt er sich berufen, abermals einzugreifen und nachzufassen. Die Wissenschaftsadministration ist voller Erfindungsreichtum, wenn es darum geht, Scheinerfolge zu melden, Symptome mit Ursachen zu verwechseln und die falschen Schuldigen anzuklagen. Ihre Lieblingskinder in puncto Schuld sind die Langzeitstudenten und Studienabbrecher, also die eklatante Erfolglosigkeit der Universitäten, ausgedrückt als Mißerfolg der Studenten.
Dazu Zahlen: Seit 1977, dem Jahr des sogenannten Öffnungsbeschlusses, stieg die Anzahl der Studenten um 70 Prozent. Im gleichen Zeitraum wuchs das wissenschaftliche Personal um sechs Prozent, so daß sich die Betreuungsrelation massiv verschlechtert hat. Heute studieren in Deutschland 1,8 Millionen Studenten auf 900.000 Studienplätzen. Das heißt, alle Plätze sind doppelt besetzt, die Studenten werden rechnerisch nur halb gewichtet oder nicht für voll genommen. Entsprechend die traurigen Folgen, wobei ich von allen Enttäuschungen und Katastrophen in der Studentenbiographie absehe, getreu der Erfahrung, daß, was sich quantitativ nicht darstellen läßt, für die Verwalter der Bildung ohnehin uninteressant ist: Die Studiendauer hat sich in den vergangenen zehn Jahren um zwei Semester verlängert, sie liegt gegenwärtig bei 14,6 Semestern. Der Durchschnittsstudent ist, sofern er ein Examen macht, 28 Jahre alt. Nur 20 Prozent der Absolventen schaffen den Abschluß in der Regelstudienzeit, mehr als 30 Prozent der Studierenden machen nie ein Examen.
Massenuniversitäten mit dieser Erfolgsquote sind Sackgassen, Institutionen der Anomie, nicht der Ausbildung. Wer nach diesen Zahlen die Studienzeit zu verknappen und die Langzeitstudenten zu bestrafen verspricht, um die Universitäten zu retten, ohne zugleich den Finanzetat der Universitäten massiv zu steigern, macht die Erfolglosigkeit zum politischen Programm. Er sucht und produziert Opfer, bei den Studenten ebenso wie bei den Professoren, oder – harmloser – er droht mit dem eisernen Besen und hat nur eine Zahnbürste in der Hand.
Drittens: Was tun? Die logische Konsequenz aus der Verelendung in Deutschland wäre a) entweder, negativ die Universitäten als Massenuniversitäten weiterzuführen mit all ihren bekannten negativen Haupteffekten oder b) die Anpassung der Universitäten an die Nachfrage und die materielle Sicherung des Grundrechts auf Ausbildung und freie Berufswahl. Letzteres hieße nicht Vergrößerung der Massenuniversitäten, sondern ihre behutsame Auffächerung und Differenzierung. Stichwort: Lieber viele Hochschulen als eine Hochschule, lieber Typenvielfalt als Einheitlichkeit, lieber viele Restaurants mit unterschiedlichen Speisekarten als die wissenschaftliche Großküche.
Das wäre nicht kostenneutral, gewiß. Doch die akademische Ausbildung von 1,8 Millionen Studenten, sofern sie ihren Namen verdient, ist nicht zum Preis von 900.000 zu haben. Wenn mehr als 30 Prozent eines Jahrgangs studieren, können die Hochschulen nicht als akademische Bahnhofsmission geführt werden, ohne sie zu ruinieren – sie, die Hochschulen und die Studenten.
Doch des Senators Logik ist eine andere. Auch er schätzt die Massenuniversität nicht, aber seine Lösung besteht in einer Verschärfung ihrer Probleme. Er pumpt kein Geld hinein, sondern zieht es heraus. „Die Hochschulen in der Bundesrepublik werden nicht länger den Staat mit ihren 1,8 Millionen Studenten unter Druck setzten können“, bekannte Erhardt (Tagesspiegel, 23.10. 1993). Wie bitte? Was bedeutet dieser bemerkenswert aburde Satz?
Seine Deutung ist durchaus schwierig, sie führt ins Labyrinth der Rechtsregeln und Verordnungen, die die Universitäten umgeben. Nehmen wir das konkrete Beispiel der Freien Universität: Hier studieren gegenwärtig 62.000 Studenten auf 37.000 Studienplätzen, und hier werden nach der Planung des Senators 25 Prozent des wissenschaftlichen Personals in den nächsten zwölf Jahren abgebaut, damit im Jahr 2005 10.000 Studienplätze weniger existieren. Wohlgemerkt, Plätze, nicht Studenten, und zwischen beiden besteht, siehe oben, eine Gummirelation. De facto ist der Senator angetreten, diese Universität auszuhungern und finanziell einzuschnüren wie eine mittelalterliche Stadt im Belagerungszustand.
Warum die gezielte Kapazitätsvernichtung? Kann der oberste universitäre Dienstherr den Studenten das Studium nicht direkt untersagen? Nein, das erlaubt gottlob die Gesetzeslage nicht (GG, freie Berufswahl), und Manfred Erhardt ist ein gesetzestreuer, ehrenwerter Mann. So bleibt nur die Abschreckung, das Chaos. Die eingeleitete administrative Verschärfung der Hochschulsituation führt zwar dazu, daß die Massenuniversitäten noch massenförmiger werden, als sie es ohnehin schon sind. Doch damit verbindet sich die schlimme Hoffnung, daß die Studenten die FU erschöpft und verbittert verlassen, am besten erst gar nicht erscheinen und so das Ihre zur deutschen Hochschulpolitik beitragen. Strategie – je schlimmer, desto besser? Die neue produktive Variante des Chaos hat in Berlin bereits begonnen.
Der Autor lehrt an der Freien Universität und ist Redakteur der Zeitschrift „Leviathan“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen