Das entgleiste Modell

Das einstige soziale Musterland Schweden spart sich immer tiefer in Krise und Verschuldung  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Die Billionengrenze war am 30. Juli dieses Jahres überschritten. Da belief sich Schwedens Staatsschuld auf 1.008,9 Milliarden Kronen (220 Milliarden Mark). Seither sind jede Sekunde 8.000 Kronen dazugekommen, werden es pro Stunde 29 Millionen, pro Tag 700 Millionen mehr. Pro Kopf der acht Millionen EinwohnerInnen 120.000 Kronen: nicht die verhältnismaßig höchste Verschuldung aller westlichen Industrieländer – da halten noch Italien und Irland die Spitzenpositionen –, aber die am schnellsten und völlig ungebremst ansteigende. Die Zinsen fressen soviel auf, wie im Staatsbudget für die gesamte Altersvorsoge und die Kosten der Arbeitslosigkeit vorgesehen sind. Und die Spirale dreht sich weiter: Alte Schulden müssen mit neuen Schulden zu noch ungünstigeren Konditionen finanziert werden. Die Arbeitslosenrate Schwedens liegt – AB-Maßnahmen dazugerechnet – bei elf Prozent mit stark steigender Tendenz. 16 Prozent gilt für das kommende Jahr als realistische Zahl. 1990 waren es 1,5 Prozent. Schweden war wirklich einmal ein Modell, was den Umfang seines sozialen Netzes und dessen umverteilende Wirkung anging. Alt, arbeitsunfähig oder krank zu werden, bedeutete keine soziale Katastrophe: Die Zahlungen der Sozialversicherung entsprachen nahezu dem normalen Verdienst. ExpertInnen haben rückblickend die Hauptvoraussetzung für das Funktionieren dieses Modells ausgerechnet: Ein Wirtschaftswachstum von mindestens zwei Prozent jährlich. In den siebziger Jahren noch knapp gehalten, wurde diese Ziellinie seit den achtziger Jahren nicht mehr erreicht. Und steht sogar ein Minuszeichen vor der entsprechenden Zahl, wie in den letzten Jahren, dann stimmt die Kalkulation endgültig nicht mehr. Nach den neuesten Plänen der Regierung werden Arbeitslose schneller als in Deutschland aus der Arbeitslosenversicherung herausfliegen und im Sozialhilfenetz landen, RentnerInnen bald ihre laufenden Ausgaben nicht mehr decken können. Das soziale Netz ist zwar immer noch dichter als in den meisten europäischen Ländern, wird aber dafür auch immer schneller durchlöchert. Und das Modell ist schon lange tot.

Während die einen es schon 1980 begruben, die anderen erst im letzten Jahr, dürfte die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen. Vielleicht im Jahre 1986 beim Kongreß der Gewerkschaft LO, die das Modell in Jahrzehnten unangefochtener Macht mit den Sozialdemokraten aufgebaut hatte, und da plötzlich verkündete: Nun müßten die öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum Anteil am Bruttosozialprodukt nicht mehr steigen. Was nicht in einer Konsolidierungsphase geschah, sondern schon mitten auf dem Weg nach unten. Nur über mehrere Abwertungen wurde der Mythos der wettbewerbsstarken schwedischen Volkswirtschaft aufrechterhalten, und die großen Konzerne waren schon kräftig dabei, Kapazitäten ins billgere Ausland zu verlegen.

Der Punkt war überschritten, bis zu dem das Kapital bereit war, sozialdemokratische Umverteilung auf seine Kosten hinzunehmen. Und auch der Punkt, wo der öffentliche Sektor ein Mehr an Steuergeldern nicht in mehr Effizienz und Leistung umsetzte, sondern in seinem bürokratischen Eigenleben verheizte. Hier wäre es erforderlich gewesen, Modell und Wirklichkeit anzupassen. Doch der politische Mut fehlte.

Solange die SozialdemokratInnen, wenn auch immer ratloser angesichts der rauhen Winde, das Steuer führten, hielt sich Schweden noch einigermaßen in der europäischen Wirtschaftsspitzengruppe: Vorsichtig und unsystematisch wurde am Staatsbudget herumgekürzt, keine Arbeitslosigkeit akzeptiert, dafür aber die Inflationsbremse losgelassen. Die vor zwei Jahren an die Macht gekommenen Konservativen wollten alles besser machen. Mit den bei Thatcher und Reagan abgeguckten Rezepten der achtziger Jahre sollte den Anforderungen der 90er Jahre begegnet werden. Die Inflation wurde zum Todfeind der Volkswirtschaft erklärt, als es schon längst darum gegangen wäre, den sich abzeichnenden totalen Einbruch am Arbeitsmarkt aufzufangen. Wo eigentlich Stimulanzpakete erforderlich gewesen wären, um nicht immer mehr Unternehmen entgleisen und die Privatkonsumption in tiefste Tiefen absinken zu lassen, wurden Steuergeschenke an die Unternehmen verteilt, bei den öffentlichen Kassen eingespart und der private Verbrauch durch nicht mehr finanzierbare Zinslasten nach unten gedrückt. Die Spirale nach unten stoppte zwar das Scheinproblem Inflation, riß aber ansonsten die gsamte Volkswirtschaft ins Minus und schoß die Staatsverschuldung nach oben: Ausgleich dafür, daß trotz immer neuer Streichpakete die sinkenden Steuereinnahmen stetig größere Löcher ins Staatsbudget rissen. Die Konservativen wollen trotz erwiesener Erfolglosigkeit bis zu den Wahlen im September nächsten Jahres so weiterwursteln. Mehr als die Hoffnung, irgendwann werde die wieder anspringende Weltkonjunktur auch einen Sonnenstrahl auf Schweden werfen, steckt hinter dem sturen Festhalten an den veralteten Rezepten nicht. Allenfalls noch das Märchen, mit der EG- Mitgliedschaft werde ein neuer Anfang für Schweden geschaffen. Bis dahin wird weiter kräftig gestrichen, Hunderttausende neuer Arbeitsloser vom ausarmenden öffentlichen Sektor freigesetzt und gleichzeitig das Anderthalbfache des diesjährigen Staatsdefizits in absolut unproduktive Bereiche gesteckt: wie die Sanierung der durch eigene Unfähigkeit bankrotten Banken, eine wahnwitzige Stützung einer überbewerteten Währung und den Luxus eines neuen Kampfflugzeugs für die Luftwaffe, um zu Lasten Zehntausender anderer Arbeitsplätze einige hundert in der prestigeträchtigen Rüstungswirtschaft zu retten.

„Ich fasse es nicht, wie solche Politiker noch in den Spiegel sehen können“, rief dieser Tage die bekannte Autorin Maria-Pia Boethius im Stockholmer Dagens Nyheter aus. Offensichtlich ganz gut, weil die sozialdemokratische Opposition alles andere als mit erfolgversprechenden Gegenrezepten aufwartet. Auch bei ihr geht der Blick zurück, soll einfach da weitergemacht werden, wo man aufgrund der Wahlniederlage von vor zwei Jahren aus den Schienen geworfen wurde.

Eine Mehrwertsteuersenkung um ein Fünftel, finanziert durch eine vorsichtige Mehrbesteuerung bei höheren Einkommen. So lautet das Patentrezept, mit dem Ex-Ministerpräsident Carlsson in den Wahlkampf ziehen und – soll's denn sein, wofür derzeit alle Meinungsumfragen sprechen – ab nächstem Jahr wieder regieren will. Über wachsenden Privatkonsum die Wirtschaft langsam wieder ankurbeln. Wobei eher zu erwarten steht, daß die SchwedInnen angesichts der Krisenerfahrungen der letzten Jahre jede zusätzliche Krone im Sparschwein verschwinden lassen, als sie wie erhofft in hemmungslosen Konsum zu stecken. Daß sich außerdem bis dahin die Staatsverschuldung vermutlich auf über 100 Prozent des Bruttosozialprodukts belaufen wird, wie selbst die sitzende Regierung befürchtet, soll erst mal als unabänderliche konservative Erblast, als im nächsten Jahrtausend anzugehendes Problem auf die lange Bank geschoben werden.

In welchen Bereichen der Volkswirtschaft die dringend benötigten Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, die in den letzten Jahren in der Erz- und Stahlindustrie, bei Werften und Autofirmen, in der Textil- und Lebensmittelindustrie und natürlich im öffentlichen Sektor weggefallen sind, steht in den Sternen. Viele arbeitsintensive Branchen sind auf Nimmerwiedersehen verschwunden. In asiatische und südeuropäische Niedriglohnländer und seit Monaten in deutlich steigendem Maße ins nahe Baltikum und nach Weißrußland. Von allen großen schwedischen Konzernen geht es nur einem so gut, daß Zukunftsimpulse zu erwarten sind: dem Telefon- und Elektronikriesen Ericsson. Doch was sind einige tausend zusätzliche Arbeitsplätze in diesem Bereich angesichts der Tatsache, daß bald jedeR siebte SchwedIn auf der Straße stehen wird?

Offenbar Zeit, Keynes und die alleinigen Wundermittel des Marktes hervorzuholen. Schweden spart sich zu Tode. Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern weit unter unseren Möglichkeiten, lautet die provokative These einiger Wirtschaftswissenschaftler, die allen Reichstagsparteien Unfähigkeit in ihrer Wirtschaftspolitik vorwerfen. „Schweden in die Krise führen“, so der Titel des gerade erschienenen Buchs der beiden Professoren Carl Hamilton und Dag Rolander, empfiehlt ein ganz neu-altes Radikalrezept aus der Krise: Staat halte dich heraus, laß die Reichsbank und die Marktkräfte bestimmen! Wenn Marktwirtschaft, dann richtig und uneingeschränkt. Wie schnell die dann massiv losbrechende Massenarbeitslosigkeit Schwedens demokratische Strukturen in autoritäre und diktatorische Richtung lenken wird, dürften dann andere Professoren wohl als interessantes Modell am lebenden Objekt akademisch aufbereiten können. Doch auch der wachsende Unmut, immer neue Abstriche am liebgewonnenen und gewohnten Sozialstaat hinnehmen zu müssen, könnte es für immer mehr SchwedInnen attraktiv machen, auf dem Weg von Heilslehren in diese Richtung zu folgen.

„Welche Gesellschaft wollen wir haben?“, fragt Maria-Pia Boethius und hat einen Traum: „Politischer Mut wäre es, jedes Prestige zur Seite zu legen, sich zusammenzusetzen, jeden Beschluß seit den falschen Rekordjahren der achtziger Jahre durchzugehen und neu zu entscheiden. Bei Null beginnen!“ Doch solche Politiker sind auch in Schweden noch nicht geboren.