: Unter dem Mantel „göttlicher Billigung“
In Pakistan haben sich die Shariat-Gerichte als religiöse Paralleljustiz etabliert ■ Aus Lahore Bernard Imhasly
Im März 1992 wurden in Faisalabad, einer Stadt in der pakistanischen Provinz Punjab, die beiden Geschäftsleute Hamid Javed und Said Ahmed verhaftet. Ihr Vergehen: Sie hatten koranische Verse an die Wand ihres Wohnzimmers gemalt. Ähnlich erging es Gul Mohammed, obwohl die erste Sure des Korans bereits auf das Motorrad gemalt war, als er dieses aus zweiter Hand gekauft hatte.
Später kam noch ein weiterer Klagepunkt hinzu: Zeugen sagten aus, Gul habe damit geprahlt, „der Prophet Mohammed – Friede seinem Namen – habe dreitausend Wunder vollbracht, Mirza Ghulam Ahmed aber deren zehnhunderttausend“. Alle drei Männer wurden unter den Paragraphen 295 und 298 des Strafgesetzbuchs unter Anklage gestellt, welche eine Beleidigung der Gefühle der Gläubigen bei Verunglimpfung des Islam oder des Propheten unter Strafe stellen. Das Strafmaß für die Entwürdigung der Religion: Tod durch Erhängen.
Wenn Gebete zur Blasphemie werden
Weshalb werden Äußerungen, die im Mund des rechtgläubigen Muslims Ausdruck seiner Frömmigkeit sind, plötzlich zur Blasphemie? Der Straftatbestand ist erfüllt, wenn die Gebete von Anhängern einer religiösen Gruppierung geäußert werden, die gemäß pakistanischer Verfassung nicht Muslime sind. Und jedes Gebet, jede Erwähnung Allahs oder des Propheten kann im Mund eines dieser Menschen zur Beleidigung der Religion werden.
Dies gilt mit besonderer Schärfe für die islamische Sekte, zu denen Hamid Javed und die anderen Angeklagten zählen. Sie nennen sich „Mirzais“, „Ahmediyas“ oder „Qadianis“, weil sie sich auf die Lehre von Mirza Ghulam Ahmed Qadiani berufen, der im 19. Jahrhundert behauptet hatte, die Reihe von Mohammeds Nachfolgern habe sich in der Geschichte fortgesetzt, und der vorläufig letzte Imam sei er selbst. Die Hälfte der vielleicht 500.000 Anhänger Qadianis leben in Pakistan, und gerade hier sind sie die Zielscheibe der dominanten Sunni-Sekte: Javed ist nur einer von 150 Ahmediyas, die 1992 unter dem Paragraphen 295 oder 298 verhaftet wurden.
Die vage Formulierung des Tatbestands – Beleidigung der religiösen Gefühle eines Muslim – erlaubt dabei eine Anklageerhebung unter den harmlosesten Vorwänden: Bei einem der Verhafteten genügte es, daß er den Namen Mohammed trug, um die Gefühle seines Nachbarn zu verletzen.
Die immer intolerantere Rechtsprechung, welche sich in Form der „Shariat“-Gerichte in Pakistan als religiöse Paralleljustiz etabliert hat, geht auf den Militärherrscher Zia al-Haq zurück. In dessen Amtszeit gelang es den konservativen Islamisten, die säkulare Verfassung Pakistans unter das Zeichen der Religion zu stellen. Dies gab den von einem theokratischen Regime träumenden religiösen Parteien – die „Pakistan“ gern als „Staat der Reinen“ übersetzen – eine Handhabe, um das liberale Recht dem islamischen dienstbar zu machen.
Die schleichende Islamisierung zeigt sich in der Geschichte der beiden Paragraphen 295 und 298. Bei ihrer Einführung im Jahr 1984 verbaten sie den Ahmediyas gegen Androhung einer bloßen Gefängnisstrafe, sich Muslime zu nennen. 1986 wurde das Strafmaß auf „lebenslänglich oder den Tod“ verschärft. Im Jahr 1990 erklärte das oberste Shariat-Gericht, der Passus „lebenslängliche Haft“ gelte als gestrichen, und die Todesstrafe sei zwingend. 1992 wurde das erste Todesurteil ausgesprochen.
Es sind jedoch nicht nur die Minderheiten, die unter einer immer drakonischeren Rechtsprechung zu leiden haben. Es trifft auch Mitglieder der sunnitischen Mehrheit, um so mehr, als die vage Formulierung und die dürftige Beweispflicht das Gesetz zu einem kommoden Instrument der Begleichung persönlicher Rechnungen machen.
Nichts zeigt dies deutlicher als der Fall von Hamid Akhtar Khan, einem international anerkannten Pionier von Entwicklungsprojekten. Ein von ihm wegen Veruntreuung entlassener Mitarbeiter rächte sich, indem er eine Äußerung Khans in einem (unpublizierten) Interview und einen harmlosen Vers in einem Kinderbuch zum Anlaß nahm, um ihn der Blasphemie zu bezichtigen. Bald nahm sich eine Gruppe von Eiferern der Sache gegen den liberalen Muslim an. Über das ganze Land verstreut wurden nun Klagen eingereicht, welche den über achtzigjährigen, herzkranken Mann zwangen, von Stadt zu Stadt zu hetzen, um Gerichtsvorladungen nachzukommen. Nächtliche Hausdurchsuchungen wechselten ab mit Demonstrationen und Flugblattaktionen. Bald formierte sich um den Entwicklungspionier aber auch eine Schutzfront von Menschenrechtsgruppen, denen es schließlich im November 1992 – mehr als zwei Jahre nach Beginn der Hetzkampagne – gelang, Premierminister Sharif zur Niederschlagung der Verfahren zu bewegen.
Frauen kämpfen für Menschenrechte
Das mutige Eintreten für den greisen Khan zeigt, daß die religiös sanktionierte Repression im Lauf der letzten fünfzehn Jahre auch zu einem Aufblühen von Menschenrechtsgruppen geführt hat. Dazu gehört etwa die „Human Rights Commission of Pakistan“, die sich gegen die zahlreichen Übergriffe von Staat, Justiz und anderen institutionellen und individuellen Gewaltträgern stellt. Frau Asma Jehangir, die Vorsitzende der Kommission, hat in einem Buch, By Divine Sanction, detailliert den Prozeß beschrieben, durch welchen politische, soziale und persönliche Macht- und Angstsyndrome als „göttliche Billigung“ bzw. „Strafe“ ausgegeben werden.
Es ist kein Zufall, daß gerade eine Frau an der Spitze der größten Menschenrechtsorganisation Pakistans steht. Die Frauen leiden besonders stark unter den religiösen Gesetzen. Die vier koranischen „Hadud-Verordnungen“ sind in der pakistanischen Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen den Geschlechtern besonders stark von sexueller Repression geprägt ist, zu einem Gewaltinstrument der Männer verkommen.
Besonders die im „Women's Action Forum“ (WAF) versammelten Frauen haben mit großem persönlichem Mut diese Verordnungen bekämpft, da sie nicht nur geschlechtsdiskrimierend sind – ein männlicher Zeuge zählt mehr als zwei weibliche Zeugen; vier männliche Zeugen sind nötig, damit die Vergewaltigungsklage einer Frau glaubhaft wird –, sondern auch undemokratisch. Dennoch blieben sie auch nach der Wiedereinführung der Demokratie in Kraft und wurden weder von Benazir Bhutto noch von ihrem Nachfolger Nawaz Sharif auch nur in Frage gestellt.
Wenig Vertrauen in Benazir Bhutto
Selbst wenn diese Verordnungen gestrichen werden, wie es Regierung und Opposition beabsichtigen, glauben die pakistanischen Menschenrechtsorganisationen nicht an eine Änderung der mittelalterlichen Praxis. Die Tatsache, daß mit Benazir Bhutto eine liberale Frau wieder an der Spitze des Staates steht, weckt dabei selbst bei Aktivistinnen keinen Enthusiasmus. Sie haben ihr nicht verziehen, daß sie nach ihrer ersten Wahl 1988 alle ihre Versprechen vergessen und sich dem Diktat der konservativen Kräfte gebeugt hatte.
Auch diesmal gab sie sich im Wahlkampf als Verfechterin der Rechte der Frauen und Minderheiten, aber für viele Frauen sind dies nur Gesten, die an das ausländische, vor allem das amerikanische, Publikum gerichtet sind. Selbst die Tatsache, daß die muslimischen Parteien in den kürzlich stattgefundenen Parlamentswahlen als große Verlierer vom Platz gingen, ist in den Augen der Menschenrechtsgruppen bestenfalls ein Teilsieg. Denn seit 1991 ist das koranische Shariat-Recht grundsätzlich dem zivilen Recht übergeordnet, und es ist das oberste Shariat-Gericht, das in letzter Instanz bestimmt, ob ein Gegenstand in seine Kompetenz fällt oder nicht.
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