: Des Kaisers große, grausame Vision
In China dient Mao Zedong, dessen 100. Geburtstag sich übermorgen jährt, als Legitimation einer Staatsordnung, die für ihn Inbegriff all dessen gewesen wäre, was er verabscheute
Die revolutionäre Diktatur der chinesischen Arbeiter und Bauern ist so unbesiegbar wie die Prinzessin mit dem eisernen Fächer. Wird diese Dame angegriffen, so genügt ein Fächerschlag, und der Feind ist erledigt. Aber was geschieht, wenn der Affenkönig Sun Wukung sich in ein kleines Insekt verwandelt, der Prinzessin durch den offenen Mund fliegt und in ihrem Magen Unruhe stiftet? So geschehen im 59. Kapitel des mythologischen Romans „Die Pilgerfahrt nach dem Westen“.
Mit den bekannten Gegnern wird die Volksmacht fertig. Aber können die Genossen, die so tapfer den Granaten des Feindes trotzten, den Zuckergeschossen vermeintlicher Freunde widerstehen? Nicht von den alten, geschlagenen Ausbeuterklassen geht für den Sozialismus die Hauptgefahr aus, sondern von den Parteimachthabern, die den kapitalistischen Weg gehen. Sie sind die neue Bourgeoisie, die Schlangengeister, gegen die es tausend kleine Teufel loszulassen gilt. Es hilft nichts, man muß das Hauptquartier der eigenen Partei bombardieren!
1949, am Vorabend des Sieges der Revolution, auf dem VII. Parteitag der chinesischen Kommunisten, bemühte Mao zum ersten Mal das Gleichnis von der List des Affenkönigs. Das war sein Stil. Dem Vorsitzenden stand nicht nur das drastische Vokabular der armen Bauern und Tagelöhner zu Gebote, sondern der gesamte Kanon der klassischen chinesischen Literatur und Geschichtsschreibung. Dazu ein Marxismus, der auf das Primat der praktischen Erfahrung setzte und eine höchst beunruhigende, dynamische Komponente aufwies: die Theorie der Widersprüche. Die Philosophie in der Sowjetunion hatte die Hegelsche Triade These-Antithese-Synthese eingemeindet, aber gleichzeitig der Dialektik die Zähne gezogen. Speziell im Sozialismus sollten nach sowjetischer Auffassung die Widersprüche ihren antagonistischen Charakter verlieren und sich allenfalls in der Spannung zwischen Produktionsverhältnissen und dem je erreichten Stand der Produktivkräfte äußern dürfen.
Das war nicht nach dem Geschmack Mao Zedongs. Er hatte Lenins Hegel-Konspekt studiert und daraus den Schluß gezogen, daß Widersprüche die Welt vorantreiben – in jeder Gesellschaftsordnung. In Maos Welt brachten Grund-, Haupt- und Nebenwidersprüche, die noch dazu ständig die Seiten wechselten, die Ordnung der Dinge durcheinander. Für westliche Linke, die des Schematismus der sowjetischen Welterklärung überdrüssig waren, eine faszinierende Entdeckung – und ein neues Schubladensystem.
Mao Zedong fürchtete weder das Chaos, die „große Unordnung unter dem Himmel“, noch Krieg. Nicht einmal die Atombombe schreckte ihn – das war auch nur so ein Papiertiger, wie er der Journalistin Anna-Louise Strong anvertraute. Er setzte auf „die Volksmassen“. Sie, die armen Bauern und Landproletarier, auch die Handvoll Millionen Industriearbeiter, waren das „weiße Blatt Papier“, auf dem die schönsten Gedichte geschrieben werden konnten. Die Massen waren manchmal verwirrt, in die Irre geleitet, aber ihr revolutionärer Kern war unzerstörbar. Sie bedurften der Erziehung, aber ihre Erzieher mußten selbst durch sie erzogen werden. Ganz im Sinne der Marxschen Feuerbachthesen und ganz gegen Stalins „Die Kader entscheiden alles“ gerichtet. Die Massen durften zornig sein, manchmal anarchisch, sie durften sogar streiken, große Wandzeitungen malen und große Debatten führen. Nur eins durften sie nicht: unterschiedlich sein, auf Dauer in Gruppen und Individuen zerfallen. Hier war die Dialektik außer Kraft gesetzt. Auf die große Unordnung mußte die große Ordnung folgen, und das unter Führung der Partei. Für die Institutionalisierung unterschiedlicher Interessen und Bedürfnisse, gar für politische Pluralität war in diesem Denken kein Platz.
Mao liebte die Intellektuellen nicht besonders. Ihr Verhältnis zu den Massen schien ihm der Liebe Herrn Shes zu den Drachen vergleichbar. Der war so auf Drachen versessen, daß selbst seine Möbel Drachenform hatten. Als aber ein Drache dies hörte und ihn besuchen wollte, erschrack She tödlich und ließ die Haustür verrammeln. Auf alle Fälle mußten die Intellektuellen sich umerziehen und umerzogen werden – ein Gedanke, den viele Linke bei uns begrüßten, die vom Narzismus der Studentenbewegung abgestoßen waren.
Geschickter Stratege, der er war, lockte Mao die Intellektuellen zuerst aufs Dach und zog dann die Leiter weg. Wer sich im Vertrauen auf die „Laßt-hundert-Blumen- blühn!-Kampagne“ vorgewagt hatte, mußte dafür büßen. Später, in der Kulturrevolution, als die Intellektuellen nur noch unter „stinkende Nr. 9“ der Konterrevolutions-Rubrizierung geführt wurden, wiederholte sich dieser Schrecken in x-facher Potenz. Was uns Linken im Westen als spontaner Ausbruch der antiautoritären Revolte erschien, war sorgfältig dirigiert: Die Rotgardisten gingen an Hand von Listen auf Jagd nach „bürgerlichen Autoritäten“, die ihnen vorher vom Geheimdienst Kang Shengs, eines Hauptvertrauten Maos, übergeben worden waren.
Als Mao Zedong 1966 seine Wandzeitung „Bombardiert das Hauptquartier“ schrieb und damit die heiße Phase der Kulturrevolution eröffnete, stand er am Rande des Greisenalters und fürchtete um den Kommunismus in China. Obwohl er sich oft und gerne auf Stalin berief und ihn gegen Chrustschow verteidigte, war schon die Sowjetunion Stalins für ihn das Menetekel der drohenden Niederlage. Mao war kein naiver Voluntarist. Aber er war zu der Überzeugung gelangt, daß die Entwicklung der Produktivkräfte allein nie und nimmer zum Kommunismus führt. Das Bewußtsein mußte revolutioniert werden, und das ging nur, wenn man entschlossene Schritte tat, die drei „großen Trennungen“ aufzuheben: die Trennung von Kopf- und Handarbeit, von Stadt und Land und die Trennung durch die patriarchaisch zementierten Geschlechterrollen. Es ging um die Aktualität des Kommunismus. Nicht bei der Reichtumsproduktion, sondern bei der Revolutionierung menschlicher Verhältnisse. Viele Linke im Westen waren begeistert von dieser Wiederentdeckung der „realen Utopie“. Sie wollten, sei es als Spezialisten, sei es im selbstgewählten Blaumann, „dem Volke dienen“. Das ging schief, aber mit vergleichbar harmlosen Folgen. In China hingegen wurde der Aufbruch nach Utopia für Millionen Anhänger wie Gegner der Kulturrevolution zum Alptraum: In unwirtliche Gegenden verbannt, ihrer beruflichen Möglichkeiten beraubt, ständig unter Aufsicht, ständig gedemütigt, sind ihre besten Jahre dem Sonnenstaat geopfert worden.
In China dient heute Mao der Legitimation einer Staatsordnung, die für ihn der Inbegriff all dessen gewesen wäre, was er verabscheute. Im Volk wird er verehrt, wie der erste Kaiser und Einiger Chinas, der große, aber grausame Qin Shihuang, mit dem er sich oft verglich. Bei uns im Westen wird er wie ein toter Hund traktiert, wenn man vom Interesse für sein Liebesleben absieht. Das wird sich ändern. Denn in unserer hochdifferenzierten, in ihren Subsystemen kreisenden Gesellschaft ist das Bedürfnis nach Utopie unausrottbar. Christian Semler
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