Mutlangenprozesse: „Justiz-Bankrott“

■ Verfahren gegen 85jährige auf Staatskosten eingestellt / Akten schmorten seit Jahren im Gericht

Zu 600 Mark Geldbuße war die Pastorenwitwe Margarete Harms 1987 vom Amtsgericht Schwäbisch-Gmünd verurteilt worden, weil sie an der Seniorenblockade gegen die Pershingstationierung in Mutlangen teilgenommen hatte. Die heute 85jährige aus Verden legte Berufung ein und erhielt jetzt von der Landeskasse Baden-Würtemberg einen Scheck über 430 Mark. Ihr Verfahren wurde nach Paragraph 206 a der Strafprozeßordnung (Verfahrenshindernis nach Eröffnung der Hauptverhandlung) eingestellt.

Eine „Bankrotterklärung der Justiz“ sieht die friedensbewegte Pastorenfrau in diesem Vorgang. Die Richter seien offensichtlich unter Legitimationsdruck geraten. In der Begründung des zuständigen Landgerichts Ellwangen liest sich das so: „Die überlange, von den Justizbehörden zu verantwortende Verfahrensdauer gebietet den Abbruch des Verfahrens.“

Die inkriminierte Tat liegt über sieben Jahre zurück. Die Akten schmoren seit November 1987 beim Landgericht – wie rund 200 andere. Auch die über 80jährige Elisa Kauffeld aus Jever und die 72jährige Luise Ohlsen aus Oldenburg haben einen Einstellungsbescheid erhalten. Holger Jänicke vom Carl-Kabat-Haus in Mutlangen (von hier aus wurden die Blockaden organisiert und die Prozesse begleitet) weiß, daß Anfang 1992 noch etwa 200 Verfahren beim Landgericht Ellwangen anhängig waren. „Neue Ureile hat es seit dem nicht gegeben“, erklärt er. „Der zuständige Richter hat angedeutet, daß diese Verfahren eingestellt werden sollen.“

Nach knapp 3000 Festnahmen während der Blockaden mußte die Justiz sich mit über 2500 Prozessen herumschlagen. Auf saftige Geldbußen und Gefängnistrafen folgte eine Flut von Berufungsverfahren. Nicht nur die personellen Grenzen des Landgerichts Ellwangen, auch Klagen vor höheren Instanzen bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht lassen eine zeitlich angemessene Abwicklung der Prozesse aussichtslos erscheinen.

Die finanziellen Folgen der Einstellungen trägt die Staatskasse. Die Oldenburgerin Luise Ohlsen, die damals den Aufruf zur Seniorenblockade verfaßte, will nicht nur Anwaltskosten und Reisespesen einfordern, sondern auch die 75,50 DM, die sie für das Wegtragen an die Polizeidirektion Aalen zahlen mußte. Helmut Kohls derzeitiger Favorit für das Bundespräsidentenamt, Bundesverfassungsgerichtschef Roman Herzog, hatte seinerzeit als Innenminister von Baden-Würtemberg das „Verursacherprinzip“ für Polizeieinsätze eingeführt. Doch das Geld sei wohl futsch, meinte ein Sprecher der Ellwanger Staatsanwaltschaft. Für die Maßnahmen der Polizei sei Justitia nicht rückzahlungspflichtig.

Marie Beckmann