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Handgeschrieben und durchgestrichen

■ Das Museum für Moderne Kunst / Frankfurt zeigt in einem gesonderten Raum nüchtern-spröde Installation "Ein Jahrhundert - Johann Wolfgang von Goethe gewidmet" von Hanne Darboven als in sich völlig ...

Szenenwechsel im Frankfurter Museum für Moderne Kunst: In schöner Regelmäßigkeit läßt Direktor Jean-Christophe Ammann frischen Wind durch sein Haus wehen. Im Halbjahrestakt werden etwa sechs bis acht Räume neu „bespielt“ – der Finanzmisere zum Trotz. Allein die prominente Eingangshalle wechselte seit der Eröffnung des Museums im Sommer 1991 zweimal ihr Gesicht. Nach Thomas Ruffs überdimensionalen Portraitfotografien und Stefan Balkenhols hölzernen Pinguinen ist dort nun Farbfeldmalerei von Herbert Hamak zu sehen. Nicht immer glücken die neuen Arrangements, auch wenn sie nach wie vor gemeinsam mit den Künstlern konzipiert werden. Manchmal sind sie aber auch dringend notwendig oder, wie im Falle Hanne Darbovens, sogar überfällig.

Bisher wurde ihre Arbeit „Ein Jahrhundert – Johann Wolfgang von Goethe gewidmet“ in Nachbarschaft von Katharina Fritschs „Tischgesellschaft“ und Anna und Bernhard Johannes Blumes „Vasenekstase“ präsentiert. In ihrer wand- beziehungsweise raumfüllenden Präsenz schienen der plastische Werkkomplex und die Fotoserie das nüchterne, beinahe spröde Werk Darbovens fast zu erdrücken. Das knapp 900 DIN-4- Blätter umfassende „Jahrhundert“ wird nun in einem gesonderten, schlicht rechteckigen Raum aufgestellt. Einzig diese neuerdings gewählte Komprimierung wird Hanne Darbovens Konzept tatsächlich gerecht, erlaubt sie doch den konzentrierten Zugang zu einem Werk, daß auf rein visueller Ebene nur schwer zugänglich ist.

Darbovens Thema ist die Zeit, die sie in akribischer Genauigkeit ab- und aufschreibt und damit nach ihrem persönlichen System veranschaulicht. Die Basis jeder Zeitrechnung ist die Zahl, die in ihrer ausgeschriebenen Form zu Darbovens Rohmaterial wird. „Worte – Zahlen, Zahlen – Worte wörtlich“ – so formuliert die Künstlerin das Motto ihrer „mathematischen Literatur“.

Der größere Teil der Frankfurter Arbeit, 1971 entstanden, erschließt ein komplettes Jahrhundert. In schier endlosen, mit Schreibmaschine getippten Zahlenkolonnen erfaßt Darboven auf insgesamt 831 Blättern jeden einzelnen Tag dieses Zeitraums. Durch die Auslassung der ersten beiden Ziffern, die Jahrtausend und Jahrhundert beziffern, läßt sich diese Zeitspanne nicht konkret bestimmen. Ein Tag wie der andere wird in ausbuchstabierten Zahlenreihen abgearbeitet. Mittels der am Rand notierten Quersummen gleichen sich diese Folgen einander weiter an. Es entsteht ein „zeitloses“ Jahrhundert jenseits historischer Koordinaten und individueller Biographien.

Anders der Goethe gewidmete Abschnitt, den die Künstlerin anläßlich seines 150. Todestages hinzufügte: Darboven fixiert hier einen Zeitpunkt, das Sterbedatum Goethes, und verknüpft diesen mit ihrer Gegenwart. Unmittelbar geschieht dies über eine „Zeitbrücke“ – die Auflistung der 150 Todestage bis zur Entstehung der Arbeit im Jahre 1982.

Darbovens damaliges Hier und Jetzt konkretisiert sich allein durch das Wort „heute“. Handgeschrieben und wieder durchgestrichen erscheint es auf allen 52 Blättern. Der Arbeitsrhythmus wird so protokolliert und als langwieriger Prozeß, als verstreichende Lebenszeit der Künstlerin transparent. Einen Gegenwartsbezug anderer Art liefert die Textpassage zu Goethes Leben und Werk, die Darboven aus dem „Großen Brockhaus“ von 1973 zitiert. Die unkommentierte Übernahme enzyklopädischen Wissens weist auf einen Bildungskanon, dessen Legitimation noch immer in der Weimarer Klassik wurzelt. Von Konsequenz zeugt in diesem Kontext der dementsprechend ausdrückliche Wunsch der Künstlerin, das Werk bei seiner Neupräsentation um eine Portraitbüste Goethes zu ergänzen.

Auch die filigranen Scherenschnitte, die das „Jahrhundert“ optisch in zwölf Monate strukturieren, entwickeln vor einem geistesgeschichtlichen Hintergrund neue Verweisebenen. Anspielungen auf die Märchen der Gebrüder Grimm, bukolische Szenen und volkstümliches Kulturgut stammen aus einem romantischen Fundus, der sich nicht schärfer gegen das rationale Zahlengitter abheben könnte.

Es sind dieses Brüche, die das Werk Hanne Darbovens mit den Widersprüchlichkeiten ihrer Person verschmelzen. 1941 als Sproß der Kaffee-Dynastie in München geboren, verbrachte die Künstlerin die Jahre 1966 bis 1968 in New York, wo sie in Berührung mit Vertretern der amerikanischen Concept-art kam.

Legendär ist ihre Begegnung mit Sol LeWitt, den sie zufällig in einem Schreibwarenladen – wo auch sonst? – kennenlernte. Der Einfluß dieser verschriftlichten Kunst sollte Darboven, die zur vielleicht bedeutendsten deutschen Konzept-Künstlerin avancierte, nachhaltig prägen.

Heute lebt sie in einem bis unter das Dach mit Antiquitäten vollgestopften Backsteinhaus in Hamburg-Harburg. Mitten in diesem Sammelsurium feilt sie mit an Selbstaufgabe grenzender Ausdauer immer weiter an ihrer Fixierung der Zeit – ohne sie durch die beständige Häufung von Zeugnissen all der längst vergangenen Momente in ihrem Leerlauf zu bremsen. Britta Färber

Die Installation ist als Dauerausstellung eingerichtet.

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