Wie man ein Schaf schändet

■ Sean McGuffins gesammelte Erzählungen aus dem Belfast der siebziger Jahre

Wenn das Wort „Belfast“ fällt, denken die meisten an Krieg. In den letzten Wochen ist kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht eine neue Schreckensmeldung aus der nordirischen Hauptstadt gegeben hätte. Viele fühlen sich bereits an die siebziger Jahre erinnert, als der Konflikt in der britischen Krisenprovinz seinen bisherigen Höhepunkt erreicht hatte.

Im Belfast der siebziger Jahre spielen auch die meisten der gesammelten Erzählungen von Sean McGuffin, die jetzt unter dem Titel „Der Mann, der mit Chuck Berry getanzt hat“ erschienen sind.

McGuffin, der sich selbst als „Republikaner, Anarchist, intellektueller Hooligan und Schriftsteller“ bezeichnet, beschreibt vorwiegend die Folgen übermäßigen Alkoholgenusses, ohne jedoch davor zu warnen. Im Gegenteil: Er hat – ähnlich wie sein schriftstellernder Kollege Brendan Behan, den der Alkohol 1964 dahingerafft hat – das Thema in jahrelangen Selbstversuchen gründlich recherchiert. Bis auf eine bemerkenswerte Leibesfülle und entsprechend miserable Kondition hat McGuffin die Exzesse bisher jedoch unbeschadet überstanden. Die nordirische Bürgerrechtlerin Bernadette Devlin berichtete in ihren Memoiren, wie McGuffin zum legendären Bürgerrechtsmarsch von Belfast nach Derry 1969 mit einer gigantischen Anarchisten- Fahne anrückte: „Die anarchistische Fahne war lustig – ein riesengroßes Banner in Rot und Schwarz. Allerdings war nur ein einziger Anarchist unter uns: der dicke fette John McGuffin, der fast so breit war wie das Banner, das er unbedingt tragen wollte.“ Nach ein paar hundert Metern machte er jedoch schlapp, stieg in den Lautsprecherwagen und ging als einziger Revolutionär in die Geschichte ein, der einen „langen Marsch“ nahezu komplett im Sitzen zurückgelegt hatte.

Später wurde Sean McGuffin – der damals noch „John“ hieß – Vorsitzender der „Lumberjacks“, einer losen Vereinigung von Suffpatrioten, und arbeitete hauptberuflich als Dozent an einem Belfaster College. Nebenbei widmete er sich der Sachliteratur. Nachdem er 1971 kurzzeitig von der britischen Armee interniert wurde, schrieb er ein Buch über die Internierungspolitik („Internment“, 1973) und eins über die Foltermethoden der britischen Armee („The Guineapigs“, 1974). Vier Jahre später deutete sich bei seinem dritten Buch jedoch schon an, in welche Richtung sein wahres Interesse geht: Das Buch handelt von schwarzgebranntem irischem Whiskey („In Praise of Poteen“, 1978).

Ob die Recherche für dieses Buch zu seiner mysteriösen Krankheit beigetragen hat, läßt sich nicht eindeutig feststellen. Tatsache ist, daß McGuffin kurz danach im Alter von 35 Jahren zum Frührentner erklärt wurde. Anfang der 80er Jahre wanderte er nach Amerika aus, wo er seitdem in einem Haus mit Blick auf „Frisco Bay“ lebt und eine Anwaltskanzlei betreibt. Zur Zeit hält er sich laut einer dem Rezensenten vorliegenden obskuren Ansichtskarte in Malaysia auf und stellt Nachforschungen für einen Anwaltsroman mit dem Arbeitstitel „Let's kill all the lawyers“ an.

Doch zurück zu den Erzählungen aus seiner Belfaster Zeit: Die Geschichten sind banal. Es geht um den trickreichen Kampf des „Spiderman“ um eine erneute Krankschreibung, um zwei mehr oder weniger mißlungene Banküberfälle, um einen bekifften Hochzeitsgast und um einen zu allem entschlossenen IRA-Kämpfer. McGuffin gibt Tips, wie man Schafe schändet („Nun, zunächst mal trägt man einen Kilt und keine Hosen. Schafe hören das Öffnen eines Reißverschlusses auf 100 Meter.“), und er verrät, was geschieht, wenn ein largactylisches Raumschiff auf der Suche nach frischem Stickstoff mitten im Moor der Grafschaft Fermanagh landet.

Die Anregungen für seine Geschichten (bis auf „Paxo“, eine sentimentale Erzählung aus dem nicaraguanischen Bürgerkrieg), hat McGuffin in den republikanischen Ghettos von Belfast und Derry aufgesammelt – und auf den berüchtigten Expeditionen ins „Teach Ban“ (Das weiße Haus), eine Landkneipe im Nordwesten Irlands. Diese Ausflüge, weiß der Rezensent aus eigener Erfahrung, pflegten allesamt im Alkoholrausch zu enden. Einmal fiel McGuffin gar vom Barhocker und blieb regungslos liegen, bis die Bar am nächsten Morgen wieder öffnete (was er freilich in seinem Buch verschweigt.)

Seine Erzählungen haben alle einen wahren Kern, auch wenn der Autor bei der Dramaturgie des öfteren nachgeholfen hat. Viele von McGuffins Freunden und Bekannten werden sich in den Stories wiederfinden. Aber McGuffin macht trotz der Häme gegenüber seinen Akteuren keinen Hehl aus seinen Sympathien für die „kleinen Leute“: Die Arbeitslosen und Republikaner in den katholischen Ghettos der britischen Kolonie Nordirland, deren Treffpunkte eben die Kneipen sind.

McGuffins Sprache ist direkt, ohne jede schriftstellerische Distanz. Er schreibt seine Geschichten so auf, wie er sie am Biertisch erzählt. Sie sind – auch dank der einfühlsamen Übersetzung – äußerst vergnüglich. Das Buch enthält zum Glück ein Glossar, das für die Leserinnen und Leser unentbehrlich ist, die nicht – wie McGuffin – „bei jeder Runde dabei waren, die auf die IRA ausgegeben wurde“ (Klappentext). Noch besser ist es allemal, die beiden Bücher in den Koffer zu packen, nach Belfast zu fahren und die „Helden“ aus McGuffins Geschichten zu suchen. In seiner ehemaligen Stammkneipe, der „Bank Bar“, wird man sie jedoch nicht mehr finden: Der Pub in der Innenstadt ist längst mit viel Plastik renoviert und gründlich gereinigt worden – selbst die Toiletten sind mitunter benutzbar. McGuffins Akteure haben sich eine andere Schmuddelkneipe zum Hauptquartier erkoren. Aber es gibt sie immer noch. Ralf Sotscheck

Sean McGuffin: „Der Mann, der mit Chuck Berry getanzt hat“. Sämtliche Erzählungen. Aus dem Englischen von Brigitte und Jürgen Schneider. Edition Nautilus, 174 Seiten, 28 DM