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Am Rande des Todes

■ Die City erliegt dem Automobil oder überlebt als Fußgängerstadt   Von Hans Joachim Rieseberg

In Italien, das auch heute noch in Mitteleuropa die größte Dichte an historischen Innenstädten hat, gibt es noch mehr als 700 Stadtzentren, die bereits in vorrömischer Zeit bekannt waren, also mehr als 2500 Jahre alt sind. Etwas, das sich so lange in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gehalten hat, muß unbestreitbare Vorzüge haben, weil es so viele Krisen, Katastrophen und den jeweiligen Mainstream überstanden hat. Das ist zunächst die positive und optimistische Variante.

Wenn man davon ausgeht, daß wir in Mittel- und Osteuropa mehrere Hunderttausend solcher Stadtstrukturen haben, die eine Einwohnerzahl von einigen hundert bis zu einigen Millionen Menschen haben, und weiter davon ausgeht, daß fast alle diese Strukturen 'bis auf wenige Ausnahmen' durch das Automobil akut in ihrem Bestand gefährdet sind, dann kann man die katastrophale Entwicklung dieser Lebensform erkennen, die in den letzten 40 Jahren über sie hinweggegangen ist. Rund 2560 Jahre haben diese Zentren ohne das Auto existiert und nur 40 Jahre mit ihm, und diese 40 Jahren haben gereicht, um sie fast alle an den Rand des Krebstodes Verkehrskollaps zu bringen.

Die 'Mall'als Gegen-teil von urbanem Leben

Die Innenstadt ist eine durch und durch europäische Struktur, sie taucht z.B. in Amerika nicht auf. Sie wurde nicht nachgebaut, und sie wird karikaturhaft nachempfunden in den sogenannten Malls. Das sind überdachte Einkaufszentren sehr großen Ausmasses, die angeblich dem europäischen Dorf- oder Stadtcharakter nachempfunden worden sind, und zwar von einem Österreicher. Sie werden abends abgeschlossen, und tagsüber sind sie genau das Gegenteil von urbanem Leben. Es sind reglementierte, streng durchorganisierte und für eine ganz bestimmte Käuferschicht, nämlich die Mittelklasse, dekorierte Scheinwelten, die mit einer Innenstadt nichts mehr gemein haben. In Berlin am Potsdamer Platz von Sony und Daimler Benz errichtet, werden wir bald die ersten Exemplare genau dort stehen haben, wo wir einstmals eine Innenstadt hatten.

Ziel des Ganzen ist es, das Automobil und die Innenstadt miteinander zu verbinden. Allen Beteuerungen zum Trotz laufen die Planungen nicht auf eine Stärkung der historischen Stadtzentren hinaus, sondern auf ihre endgültige Abschaffung durch die Malls. Der Versuch, das Auto so zu integrieren in das Konzert zwischen Kommerz und Automobilindustrie ist also der endgültige Tod der Innenstädte.

Die meisten Architekten, Städteplaner und Verkehrsplaner machen mit, ja, sie kapieren noch nicht einmal, was sie tun. Wenn das so weitergeht, wird es bald in Paris, London, Berlin, Gütersloh oder Heilbronn gleich aussehen, und die Scheinblüte des öffentlichen Nahverkehrs, die ursächlich etwas mit der Rettung der Innenstadt zu tun gehabt hätte, wird vorbei sein.

Die europäische Innenstadt erleidet also entweder den Automobiltod oder überlebt als Fußgängerstadt. Es geht mir also an dieser Stelle gar nicht um die Umweltfrage, sondern um eine andere Lebensphilosophie und um eine andere Planungskultur. Das ist eine technische Umwelt, in der der Mensch im Grunde keine Rolle mehr spielt, sondern nur noch als Konsument die ihm zugewiesenen Funktionen übernimmt, das andere ist die Gestaltung der Stadt durch ihre Bewohner, und erst dann durch Stadtplaner, Architekten und Verkehrsplaner.

Die Verkehrsplanung hat in diesem Falle die negative Funktion der Sterbehilfe. Alle Versuche, die Stadt autofähig zu machen, und wenn es auch noch so kleine und umweltfreundliche Autos sind, führt zum Tod der Stadt. Dabei gibt es auch nicht das freundliche Miteinander oder die Ergänzung der Verkehrsträger, sondern nur das harte Entweder-Oder.

Wenn aber die historischen Wurzeln unserer Stadtstrukturen so stark sind, daß sie sich gegen diese Kommerzinteressen durchsetzen können, dann würde das Gegenteil erreicht. Dann müßten aber die Händler, die Verbraucher und die Produzenten kapieren, daß es eine europäische Dimension des Wirtschaftslebens gibt und daß diese Dimension ursächlich verknüpft ist mit der Innenstadt. Diese ist aber so dicht, daß sie für Autos ungeeignet ist, und gerade noch so weit, daß eine Straßenbahn hineinpaßt. Sie bleibt ansonsten dem Fußgänger und dem Fahrradfahrer vorbehalten, und sie ist durchgehend geöffnet und weithin unorganisiert.

Wie man eine autofreie Stadt technisch-planerisch machen kann, das ist auch schon in Europa seit Jahrhunderten erprobt. Die Vorlage hierfür heißt Venedig, eine Stadt im Wasser, ohne Autos, nur für Fußgänger. Die Vorlage in Brandenburg hieße Potsdam, eine Stadt, umgeben von Wasser, ehemals durchzogen von Kanälen – einfacher geht es nicht, man muß es politisch nur machen wollen.

Es wäre viel billiger als alle Hoch- und Tiefgaragen, viele Tunnelbauten und was man noch sonst alles braucht, um das Automobil in der Stadt erträglich zu machen. Die Bevölkerungsmehrheit wird allemal dafür sein.

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