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Graf Edward Shakespeare

Markenkreation – Neues über die größte Vertuschungsaktion der Literaturgeschichte: 1.066 Marginalia von Shakespeares Hand, allesamt in der Bibel des Edward de Vere, Graf von Oxford  ■ Von Walter Klier

Auch mit der Auffassung, die Erde sei eine Scheibe und von Abgründen umgeben, ließ sich die Welt eine Zeitlang ganz befriedigend erklären. Lehrmeinungen müssen nicht unbedingt mit der Wahrheit zu tun haben, und nicht unbedingt räumt ihre wissenschaftliche Widerlegung sie auch prompt aus der Welt. Dafür gibt es genügend Beispiele – und dafür, daß Academia allergisch auf neue Einsichten reagiert, nicht zuletzt wenn sie von außerhalb des eingezäunten Fachgeheges an sie herangetragen werden. So benötigte Alfred Wegeners Theorie von der Kontinentalverschiebung ziemlich genau ein halbes Jahrhundert, um den Weg vom haltlosen Hirngespinst bis zur wissenschaftlichen Wahrheit zurückzulegen.

Ein anderes Beispiel bringt uns geographisch unserem Thema näher: Der Mensch von Piltdown, ein Schädelfund, zu Anfang des Jahrhunderts in Südengland gemacht, brachte sensationelle Aufschlüsse über die Entwicklung des Urmenschen im heutigen Europa, ein missing link, das sich nur leider später als geschickte Montage aus äffischen und menschlichen Schädelteilen herausstellte. Zwei Gründe sorgten dafür, daß die Wahrheitsfindung recht lange dauerte: Der europäischen Wissenschaft ging es ganz einfach gegen den Strich, daß die Entwicklung des Homo sapiens sich so ausschließlich auf dem Gebiete der nachmaligen Neger abspielte, und – der mutmaßliche Fälscher (völlige Sicherheit herrscht darüber bis heute nicht) war eine der unbestrittenen Koryphäen seiner Zeit.

„The human mind is a fallible instrument“, schrieb in weiser Selbsterkenntnis E.K. Chambers, einer der bedeutendsten Shakespeare-Forscher dieses Jahrhunderts. Er hat, zumindest offiziell, nie den Verdacht (oder die Befürchtung) geäußert, es könne sich bei seinem Forschungsgegenstand, dem Schauspieler und Kaufmann aus Stratford-upon-Avon, um eine geistesgeschichtliche Variante des Piltdown-Menschen gehandelt haben.

Stratford=Bethlehem

Am Ende einer langwierigen und im Rückblick ziemlich wirr erscheinenden Debatte um die Identität des Verfassers von „Hamlet“ und anderem ermittelte J.T. Looney, eine Art Sherlock Holmes der Geistesgeschichte, als höchstwahrscheinlichen Autor jener 36 (zum Teil unsterblichen) Theaterstücke den 17. Grafen von Oxford, Edward de Vere (1550 bis 1604). Mit der Publikation von Looneys „,Shakespeare‘ Identified“ (1920) hätte die andere Seite einer seriösen Befassung eigentlich zugänglich sein und die „Wissenschaft vom Genie“ in eine neue Phase treten können.

Dies geschah nicht, im Gegenteil. Man begnügte sich mit dem Hinweis darauf, daß dieser Herr einen komischen Familiennamen hatte, der treffliche Wortspiele erlaubte: „Lunatic rubbish“ lautet etwa das wenig schmeichelhafte Gesamturteil des heutigen Papstes der Shakespeare-Biographen, Samuel Schoenbaum, über das, was er „deviations“ nennt. Allen Streitparteien gemeinsam ist es gelungen, dem Thema das Image einer mäßig belustigenden Kabarett- Standardnummer zu verpassen. (Sigmund Freud allerdings war begeistert; ihm kam die Annahme, „Hamlet“ oder „Lear“ ließen sich auf nachweisbare biographische Fakten zurückführen und nicht nur auf göttliche Eingebung oder die Notwendigkeit, geschwind ein neues Stück für die immer hungrige Bühne zu schreiben, für die eigene Lehre sehr zupaß.)

In Universität und Feuilleton wird bis heute jede Form shakespeareanischer Volksetymologie gepflegt, in der der Autor seine Rolle als eine Art schattenhafte Unperson spielt, über die man nichts weiß, nichts wissen kann und schließlich auch nichts wissen will und in der, wie in Gott, einander sonst ausschließende Unwahrscheinlichkeiten offenbar ungestört auf engstem Raum koexistieren.

Die naheliegende Analogie ist tatsächlich die zur Bibelexegese. Beim Buch der Bücher begnügt man sich mit Text und historischem Kontext; Lebensumstände und allfällige Intentionen des Verfassers müssen notgedrungen im dunkeln bleiben. Und wenn wir einmal annehmen, daß der unter dem Label „Shakespeare“ kursierende Textkanon für die Moderne eine bibelähnliche Funktion erfüllt, so verstehen wir auch die urig-atavistische Natur der Widerstände besser, die sich einer nüchternen wissenschaftlichen Behandlung des Problems entgegenstellen. Nicht zuletzt ist die Shakespeare-Geschichte integraler Bestandteil des englischen Nationalmythos, mit dem Städtchen Stratford als Bethlehem.

Whodunnit?

Während zwischen Berkeley und Münchens Shakespeare-Bibliothek die Entstofflichung des „Kaisers der Literatur“ (Dietrich Schamp) unverdrossen vorangetrieben wird, ist, weniger beharr

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lich (doch ohne die Seelenruhe, die feste Anstellung und genügend öffentliche Gelder verleihen), eine Reihe von altmodischen Geistern am Werk, die konstitutionell unfähig sind, die Frage nach dem „Wie- war-es-Wirklich?“ mit einem Schulterlupfen abschmettern.

Die Zwischenlösung, „den Autor“ ganz allgemein für obsolet zu erklären, scheint allmählich auch den Weg aller intellektuellen Moden zu gehen; auf einem Kongreß in Sachen Shakespeare wurde jüngst die Häresie laut, „der Autor“ sei letztlich wohl doch weniger tot als der Künder seines Todes – Michel Foucault (London Review of Books, November, 1993). Das gemeine Volk würde sich auf die Dauer mit einem so wolkig-unstofflichen Verfasser ohnehin nicht zufrieden geben. Im Spectator vom 30.Oktober 1993 plädiert der anderweitig notorische Enoch Powell dafür, es sei nun doch ein ganzes Dichter-Komitee gewesen.

Ein „Fund“ in (wo sonst?) Amerika könnte nun die Debatte aus den Sümpfen der impressionistischen Meinungsvielfalt auf trockeneres Gelände bringen.

Daß „Shakespeare“ sehr gebildet war, steht längst außer Zweifel (nur wenn es um seine Identität geht, wird dies vorübergehend ausgeblendet). Auf Tausenden von gelehrten Seiten kann man nachlesen, wenn man will, aus welcher Vielzahl von Texten zwischen Plato und Montaigne die Geschichten, Motive, Anspielungen und Zitate stammen, aus denen schließlich die einzigartige Legierung seiner Texte gegossen wurde. Er war ein gelehrter Dichter, und hierzu war zu allen Zeiten mehr vonnöten als Begabung und der (dokumentarisch nicht belegbare) Besuch der Stratford Grammar School, nämlich eine ordentliche Bibliothek. Auch darin, wie in allem übrigen, ist der stratfordianische „Shakespeare“ singulär: Der besaß kein einziges Buch, nicht einmal Belegstücke seiner eigenen. Ebenso wenig ist von ihm bekannt, daß er eine der damals raren Privatbibliotheken benutzt hätte.

Die bessere Theorie

Wenn man die „bessere Theorie“ heranzieht, nach der „Shakespeare“ das Pseudonym des Grafen von Oxford und der Schauspieler aus Stratford eine Art Strohmann gewesen ist, löst sich das Problem. Denn der Graf hat natürlich eine große Bibliothek besessen.

Es hatte der besseren Theorie auch bisher nicht an Belegen gefehlt, bloß an so etwas wie einem materiellen Beweisstück, das die Brücke zwischen dem Oeuvre und dem mutmaßlichen Verfasser schlüge, diesem, so wie es aussieht, Opfer der außergewöhnlichsten Vertuschungsaffäre der Literaturgeschichte, wogegen die Aktionen von B. Traven oder Thomas Pynchon sich wie niedliche Versteckspiele ausnehmen, die überdies etwas Zweckfrei-Spielerisches an sich haben. Im Fall des Grafen von Oxford (und darin bleibt „Shakespeare“ singulär, wenn auch anders, als bisher angenommen: kein „geniales Naturkind“ mehr) war diese Vertuschung eine Frage der Staatsräson, und daß dabei nichts schieflaufen würde, daß der elisabethanische Papierwolf effizient zum Einsatz kam, dafür sorgte der Clan von Oxfords erster Gattin, die mächtige Familie Burghley, zumindest die ersten 300 Jahre. Seither erledigt das die Anglistik, deren Motive anderer, wohl ebenso weltlicher Natur sein dürften.

„Shakespeare“ war nicht sehr fromm; dennoch bildete die Bibel (neben Ovids „Metamorphosen“) den wichtigsten seiner Zitatensteinbrüche. Bekannt ist auch, daß er sich meist der 1560 erschienenen „Geneva Bible“ bediente. Eine solche hatte der Graf von Oxford sich 1570, zusammen mit einem „Chaucer, Plutarch's works in French, and other books and papers“, für zwei Pfund, sieben Shilling und zehn Pence gekauft. Eben dieses gute Stück scheint sich nun gefunden zu haben – und von allen Orten gerade im Zentralheiligtum der Shakespearologie, der Folger Library in Washington.

Deren Gründer, Henry Clay Folger, hatte die Bibel 1925 einem Buchhändler aus Leicester abgekauft; seither lagerte sie in den Tiefen der Bibliothek, bis sie bei den Vorbereitungen zu einer Ausstellung über „Fine and Historic Bookbindings“ Anfang 1992 ans Licht kam und erstmals bibliographisch erfaßt wurde. Kurz zuvor war sie in einer Broschüre der Folger Library („The Compleat Gentleman“ – über eine „typische“ Bibliothek des 16./17. Jahrhunderts) erwähnt worden. Als Roger Stritmatter, der an der University of Massachusetts im Institut für Komparatistik tätig ist, im Januar 1992 den Band erstmals in Augenschein nahm, wußte niemand in der Folger Library, auch nicht die für Marginalien zuständige Kuratorin, daß er einige Randbemerkungen und zahlreiche Unterstreichungen enthält. Das Ergebnis seiner genaueren Inspektion liegt nun seit kurzem in Form eines 350 Seiten starken vorläufigen Berichtes vor.

Die Bibel ist in roten Samt gebunden und mit silbernen Beschlägen versehen, die die wappenmäßige Identifikation des Besitzers erlauben. Da die Heraldik eine vergessene Wissenschaft ist, wollen wir es bei der Bemerkung belassen, daß den Oxfordschen Schild auf der Rückseite jenes gräfliche Krönchen ziert, das zwischen 1562 und 1604 ausschließlich Edward de Vere zukam. Beim Zählen der unterstrichenen oder anderweitig markierten Verse kam Stritmatter auf die für Britannien bedeutungsschwere Zahl 1.066; von diesen lassen sich etwa 250, sei es als Zitat, Anspielung oder Verarbeitung, von Metaphorik bei „Shakespeare“ im Werk wiederfinden. Von diesen wiederum war etwa ein Drittel bereits von früheren Forschern als wichtige Quelle der Shakespeareschen Gedanken- und Bilderwelt aufgelistet worden.

Mit einer oder zwei Ausnahmen scheinen alle Eintragungen von derselben Hand zu stammen; es gibt drei oder vier verschiedene Tinten, in drei Farben; und in jeder Farbe einzelne an den Rand geschriebene Wörter wie „sinne“ (Sünde), „poore“, „usury“, „almes“, „workes“, „mercy“..., und diese Wörter sind in einer Handschrift, die, so Stritmatter, ohne Zweifel jene des Grafen von Oxford sei, die, im Gegensatz zu der des Kaufmanns aus Stratford, wohlbekannt ist.

Die Topographie der Shakespeareschen Einbildungskraft, die frühere Forscher rein aus der Analyse der Texte heraus abzustecken vermochten, stimmt auf das überraschendste mit den wiedergefundenen Marginalien überein. Generell läßt sich sagen, daß in allen 36 Stücken des Kanons Zitate auftauchen, die in dieser Bibel markiert sind; eine Häufung von Biblischem erfolgt in „Hamlet“, „Maß für Maß“, „Kaufmann von Venedig“, einigen Königsdramen und, besonders auffällig, in den Sonetten.

Mechanik der Imagination

Der Eindruck der Identität zwischen dem Annotierer und dem Autor „Shakespeare“ wird durch einige Fälle verstärkt, wo zwei markierte Verse aus der Bibel zu einer Passage bei Shakespeare verschmolzen werden.

Vergleiche mit Zeitgenossen wie Edmund Spenser oder Ben Jonson ergeben, daß hier nicht einfach eine Art von „allgemeiner Bibelkultur“ am Werke war, sondern eine sehr spezifische Bildung und Einstellung zur Welt, die man grob als die religiöse Ideologie der herrschenden Schicht bezeichnen kann, mit den Haupttugenden des Gehorsams, der Sparsamkeit und der sexuellen und politischen Enthaltsamkeit, die selbstredend nur für die Untertanen galten. Bei Schriftstellern bürgerlicher oder „proletarischer“ Herkunft fehlen diese Vorlieben ebenso wie jene Shakespeare eigenen fixen Ideen, die sich durch die Dramen und Annotierungen ziehen, wie die von der Unverletzlichkeit des gesalbten Königs. Sie stammt aus dem Alten Testament, wo es, in der Sprache der „Geneva Bible“, in II Samuel 1.14 etwa heißt (Hervorhebung vom Grafen von Oxford): „And David said unto him, How wast thou not afraid to put forthe thine hand to destroy the Anoynted of the Lord.“

Im Shakespeare-Kanon taucht diese Idee nicht weniger als fünfzehnmal auf, etwa in „Richard II“: „Not all the water in the rough sea / Can wash the balm off from an anointed king.“ (3.2.55)

Zum Vergleich: Der Ausdruck „anointed king“ und damit verbundene, sagen wir einmal, wesenhaft royalistische Ideen kommen etwa bei Spenser, Jonson oder Philip Marlowe überhaupt nicht vor.

Ähnliches gilt etwa für Shakespeares besonders in den Sonetten wiederholt vorgetragene Klage um den Verlust seines guten Namens beziehungsweise des Namens überhaupt („my name be buried where my body is“), also die quasi- religiöse Vorstellung, daß die Rettung der Seele irgendwie mit dem historischen Überleben des Familiennamens zusammenhänge – etwas essentiell Mittelalterliches, das die mehr von Reformation und Puritanismus geprägten Zeitgenossen kaum noch interessierte.

Wie man als Freund des „Kaufmann von Venedig“ oder des „Timon von Athen“ weiß, beschäftigte das Problem des Geldverleihs gegen Zinsen unseren Dichter beträchtlich. In der Bibel ist ein ganzer Schwarm von Versen, der sich damit befaßt, angestrichen, dazu hat der Graf an drei Stellen „usury“ (Wucher) an den Rand geschrieben.

Die Evidenz, von beeindruckender Vielfalt und Dichte, kann hier nur angetupft werden. Sie fügt sich harmonisch nicht nur in die Ergebnisse der bisherigen Shakespeareschen „Bibelforschung“, sondern ebenso in die Darstellung, die das 1984 erschienene Oxfordsche Standardwerk, Charlton Ogburns „The Mysterious William Shakespeare“, von dem Erfinder jenes sprechenden Pseudonyms gibt, dessen Werke (wenn die „bessere Theorie“ denn stimmen sollte) von so frappierender Unverwüstlichkeit sind, daß die Frage, ob sie nun von Shakespeare oder einem anderen Mann gleichen Namens stammen, einem Teil des Publikums nicht mehr als milde Belustigung entlockt. Der andere Teil, der sich dem Reiz des whodunnit, besonders in historisch belegten Kriminalgeschichten (noch dazu mit einem Dichter als Hauptfigur) nicht zu entziehen vermag – ist gespannt.

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