Menschen wie du beziehungsweise ich: Vor Toresschluß Von Claudia Kohlhase

Mein Gott, gleich ist Silvester, und ich weiß noch nicht, wohin. Nur noch wenige Stunden, und das alte Jahr ist dahin – aber wo bin ich? Woher soll ich wissen, wo es dieses Jahr mit mir hingekommen ist, wenn ich am entscheidenden Zeitpunkt zur falschen Stelle bin? Es ist quasi furchtbar: Jetzt könnte noch fix alles ins Reine kommen, wenn man bloß am richtigen Ort wäre!! Also nicht am falschen.

Wie zum Beispiel letztes Jahr. Auf dieser gräßlichen Fete, die eigentlich eine Party war, obwohl ich den Unterschied bis heute nicht begriffen habe. Jedenfalls stand ein Käsesalat in der Ecke, und man sollte später tanzen oder wahlweise mit Unbekannten warm werden und ihnen letztendlich Käsesalat bringen. Ist so was ein Jahresabschluß?

Oder vorletztes Jahr, dieses gemütliche Beisammensein mit Knallbonbons unter Paaren! Erst mal war das Tischtuch völlig versaut von der einleitenden Gans. Und dann waren noch alle zu blöd zum zielgerichteten Ziehen. Natürlich ein Omen, schließlich leben schon wieder alle getrennt.

Oder vorvorletztes Jahr: Bleigießen im Kollegenkreis! Ich hatte eine wunderschöne Sphinx geworfen, jedenfalls etwas sehr Sphinxtypisches, aber gewisse Kollegen versteiften sich auf fallschirmspringender Dackel. Und mit so was arbeitet man! Ich überlege nun jedenfalls seit Tagen, an welchem Ort ich noch schnell alles ins Reine bringen könnte. Vielleicht mußt du dich selbst ins Reine bringen, durchfuhr es mich gestern. Aber das scheint mir denn doch zu anstrengend, und nachher kann man nicht mehr damit aufhören. Vielleicht, dachte ich danach, könnte ich am letzten Tag noch schnell etwas beispielhaft leben: also gleich in der Morgenstund' aufstehen und nicht erst warten, bis Gold kommt; danach rauf und runter Zähne putzen statt quer. Und dann irgendwie modellhaft weitermachen, lassen Sie sich mal selbst was einfallen. Und schwupp ist der Modell- Abend da, also in unserem Fall Silvester.

Jetzt: Was mache ich Silvester? Gott sei Dank kennen wir dieses Problem nun schon vom Anfang dieses Textes, und es beunruhigt dadurch nicht mehr so schrecklich – ja, es ist doch fast wieder beruhigend, wieviel Platz man füllen kann mit Ratlosigkeit. Hat das nicht auch schon Modellcharakter? Vorhin rief mein ständiger Bekannter an und meinte, ich solle mitkommen in ein schickes Lokal, wo es Einlagen gäbe. Was für Einlagen, fragte ich streng, etwa Kabarett? Na ja, sagte er, bestimmt was Schräges. Na vielen Dank, sagte ich, habe ich mich dafür ganz gut gehalten? So langsam wird mir ein wenig panisch: Wahrscheinlich hätte ich doch dem Rat einer Freundin folgen und zum Pendeln in den Harz fahren sollen.

Zur Strafe habe ich mir übrigens das Journal für die Frau gekauft, wo mein Karma-Horoskop steht. Demnach war ich mal wer ganz anderes. Kein Wunder, daß ich jetzt so zerrissen bin! Lieber Himmel, während ich hier so rumüberlege, läuft hinter mir die ganze Zeit mitsamt den Zeilen ab. Jetzt muß sich im Prinzip zack, zack die Lösung anbahnen.

Okay okay: kauf ich mir eben einen persönlichen Silvesterkracher und schieß mich zum Mond, wo immerhin der Mann im Mond wohnt. Eventuell tanzen wir einfach Cha-Cha-Cha bis in den Morgen, und dann hat sich das.