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Zwei Jahre im Schmutz der Geschichte

Karin R. arbeitet als Sachbearbeiterin in der Gauck-Behörde: Vier- bis siebenmal die Woche muß sie menschlichen Trost für die Bespitzelten spenden, die ihre eigenen Akten lesen  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Manchmal träumt sie nachts davon. Wie oft in den letzten zwei Jahren, hat Karin R. nicht gezählt. Anfangs hatte sie das Gefühl „ich halte das nicht mehr aus“ und hat dann doch weitergemacht. Man gewöhnt sich an so vieles. Dennoch überkommt sie manchmal noch heute dieses Gefühl von Ekel, wenn sie den Gegenstand ihrer Arbeit berührt: diese Berge von Akten, diese gespenstische Hinterlassenschaft aus Papier, bedruckt mit geballter Perfidie, grotesker Armseligkeit und krankhaftem Mißtrauen. Karin R. arbeitet sich Tag für Tag durch diese Erbmasse aus Zellulose hindurch. Als Sachbearbeiterin im Referat Akteneinsicht der Gauck-Behörde muß sie Seite für Seite lesen.

Vor genau zwei Jahren wurden die Akten der DDR-Staatssicherheit den Betroffenen zur Einsicht freigegeben. Wohl zum ersten Mal in der Geschichte gab ein Gesetz den Bürgern einer gestürzten Staatsmacht das Recht nachzulesen, was der entmachtete Geheimdienst über sie gesammelt und gelogen hatte. Am 2. Januar 92 machten erstmals 40 ausgewählte Betroffene von diesem Einsichtsrecht Gebrauch. Ein Gewitter von Blitzlicht und Fersehscheinwerfern begleitete den historischen Moment. Karin R. erinnert sich noch genau an diesen Tag: Eine Viertelstunde vor Öffnung der Türen waren noch keine Gardinen vor dem Lesesaal, in dem die Betroffenen die geheimen Kapitel ihres Lebens studieren wollten, und genau gegenüber, mit bestem Einblick, hatten sich die Fersehstationen postiert: „Da haben wir aus dem Büro von Gauck schnell die Vorhänge abgehängt und dort angebracht.“

Aus dem improvisierten Chaos ist inzwischen behördliche Routine geworden: Fast 700.000 Menschen haben seitdem einen Antrag auf Einsicht in ihre Stasi-Akten gestellt. Gerade knapp die Hälfte der Anträge konnte bisher bearbeitet werden. Die Mühlen der Gauck- Behörden mahlen kompliziert. Zwischen vier und sieben Akteneinsichten schafft Karin R. die Woche. Jede Akte muß aufbereitet werden, damit die Betroffenen das Gewirr von Abkürzungen und Stasi-Jargon auch durchdringen können. Jede Seite muß zuvor gelesen werden. Kein einziger Name von unbeteiligten Dritten darf ungeschwärzt bleiben.

Bei Karin R. und ihren 70 KollegInnen von der „Akteneinsicht“ stapelt sich so der schmutzigste Teil der Geschichte ihres eigenen Landes auf dem Schreibtisch. „Wenn man diese Telefonprotokolle der Stasi liest, diese Menschenverachtung. Wie genau die alles, aber auch alles aufgezeichnet haben. Protokollnotizen wie: ,Intimverkehr wurde von dann bis dann ausgeübt.‘ Das ist nur schwer zu verkraften.“

Karin R. macht das schwer Verkraftbare „aus politischem Interesse und Überzeugung“. Nein, eine mutige Bürgerrechtlerin war die 51jährige Diplomarchivarin nie. „Ich hab mich eher in eine Nische zurückgezogen, so, wie sich DDR-Bürger eben verhalten haben.“ Aber dann, in der Aufbruchstimmung der Nach-Wendezeit, wollte sie etwas tun. Sie bewarb sich 1991 beim damaligen Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck. Das Bewerbungsgespräch fand in der Mielke-Suite im Stasi- Hauptquartier Normannenstraße statt. Unten, am Empfang, wies die alte Stasi-Besatzung ihren „Bestattern“ den Weg.

Für Karin R. wurde die Arbeit Nachhilfeunterricht in Geschichte. „Diese Dimensionen habe ich früher nicht geahnt. Gut, man kannte den Mann mit dem Regenschirm und dem Nylonbeutel an der Ecke. Aber daß das diese Ausmaße hatte, habe ich nicht gewußt.“ Seitdem hat Karin R. eine ungeheure Hochachtung vor den Bürgerrechtlern. „Wenn man das alles liest, Tag für Tag, das kann man abends nicht einfach abschütteln, das bewegt einen sehr.“ Gut, es gibt auch Lachhaftes: Wenn etwa ein übereifriger Armeeangehöriger der Stasi peinlich genau Bericht erstattet, welche Lektüre sein Vorgesetzter auf dem Abort bevorzugt. Aber da sind eben auch die zahllosen perfiden Resultate, die die Richtlinie Nr. 1/76 des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Repulik produzierte. Darin wurden detailliert „Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung“ von „zu bearbeitenden Personen“ aufgelistet. Empfohlene Mittel unter anderem: „systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen“ und „gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen“.

Als Mitarbeiterin des Referats Akteneinsicht weiß Karin R. stets schon vor den Betroffenen, was auf diese zukommt. In einem Aufklärungsgespräch versucht sie die Opfer der Stasi schonend vorzubereiten, bevor sie ihnen die Akte zu lesen gibt. „Einfühlungsvermögen“ und „Lebenserfahrung in der DDR“ nennt die Behörde denn auch als Qualifikationsanforderung für diese Arbeit. Nicht zufällig hat man dafür diejenigen ausgesucht, von denen man glaubt, sie seien schon per Geschlecht dafür prädestiniert: Zwei Drittel der Beschäftigten der Gauck-Behörde sind Frauen. „Natürlich bleibt es nicht aus, daß wir helfen und auffangen müssen, doch wir können keine Therapeuten sein“, schränkt Karin R. ein. Als Hilfe gegen die menschlichen Abgründe, die sich für etliche Betroffene auftun, haben die Sachbearbeiterinnen außer Anteilnahme meist nur den dürftigen Trost parat: „Sie sind kein Einzelfall.“

„Viele kommen auch mit schlimmen Erwartungen und sind erleichtert, daß diejenigen, die sie verdächtigt haben, doch standgehalten haben.“ Einige schicken Briefe und bedanken sich, andere kommen, nicht ohne Bitterkeit, mit dem Familienalbum in die Gauck-Behörde zurück: „Schauen Sie, das war mein IM.“ Die dritten machen erst draußen vor der Tür ihrer Wut und Enttäuschung Luft, einige brauchen Tage oder Monate, bis der Zorn über die Vergangenheit aus ihnen herausbricht. Doch so unterschiedlich die Menschen auch reagieren, „kaum einer bereut den Blick in seine Akte“, hat Karin R. beobachtet. Die pure Nachfrage scheint ihr recht zu geben: Seit Kanzler Kohl über den unguten Geruch schwadronierte, der aus den Stasi-Akten aufsteige, und einen geruchssicheren Deckel über der Geschichte forderte, steigt die Zahl der Einsichtsanträge mit über 10.000 im Monat wieder deutlich an.

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