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■ Service und Organisation regieren auf den Schienen:Gute Fahrt mit der neuen Bahn

Horst Ziemann aus 21468 Neu- Wunsdorf sammelt Unterschriften. Gegen die alte Bahn, in der neuen Bahn. Ziemann sitzt, nein er steht auf dem Gang des Intercity 535 von Hamburg-Altona nach Berlin-Hauptbahnhof. Der Kalender zeigt Montag, den dritten Januar, der erste Werktag der neuen Bahn. Im Gang zwischen schweinchenrosa Abteiltüren und Fenstern, die sich kaum öffnen lassen, dreißig genervte Reisende. Die improvisierte Unterschriftenliste auf Horst Ziemanns Din-A-4-College- Block wird schnell länger.

Die neuen Schaffner – unter uns gesagt, es sind die alten – versuchen den Unmut 1994 so gut es geht zu dämpfen und vor allem zu ignorieren. Sogar im Sanktuarium, dem Personalabteil werden sperrige Koffer verstaut. Doch dann hält der etwas empfindsame Schaffner eins die spitzen Bemerkungen nicht mehr aus: „Wenn Sie endlich mal Platzkarten vorab buchen würden, statt auf den letzten Drücker zu kommen, würden hier endlich auch mal ein paar Wagen angehängt.“ Eine Antwort der neuen Bahn, eine falsche dazu, gebe ich zurück. Neue Bahn, alte Bahn, da habe sich nichts verändert, meint selbst der Uniformierte mit dem kleinen, unleserlichen Namensschild. Hier kann ich dem Manne nur recht geben. Auf mehr Nachfrage reagiert das Unternehmen 94 wie früher die Behörde: Mit Verweigerung.

Zweiter Versuch, zweite Chance, Schaffner zwei. Doch die Antwort scheint standardisiert. „Wenn sie früh genug Platzkarten buchen, wird ein Wagen zusätzlich angehängt“. Rückfrage, wann ist denn früh genug. Antwort : Einen Tag vorher. Die Bahnalität will es anders: Hatte ich doch am Donnerstag, also vier Tage vorher, versucht, Platzkarten für einen Montagszug von Hamburg nach Berlin zu erwerben. Der Computer meldete, IC 535 ist total ausgebucht – alles besetzt, keine Chance. Das Unternehmen Bahn könnte zwar locker drei oder vier außerplanmäßige Wagen an den Kurzzug nach Berlin anhängen, wer aber soviel erwartet, der überschätzt den Geschäftssinn der neuen Bahn.

Ich will mich in mein Buch vertiefen. Doch rechts neben mir will ein Fahrgast die Hälfte des Fahrpreises zurück. Man könne doch nicht den vollen Preis berechnen und ihn dann stehenlassen schnaubt der Raucher. Schaffner zwei ist cool und bleibt ungerührt. Keine Antwort. „Den Fahrschein bitte.“ Der wird ordnungsgemäß abgeknipst.

Links von mir nimmt ein Teenager den Zustand gelassener. Ihr Vater sitzt im Schwerbehindertenabteil und hat einen Teil der Koffer im Buffetabteil untergebracht. Der Buffetwagen kommt wegen der vollen Gänge sowieso nicht durch. Heiße Würstchen und Kaffee also nur bei Abholung. Bruder und Schwester lösen sich derweil beim Stehen auf dem Gang ab. Die Tochter klappt ihr Astrid-Lindgren-Buch zu. „Wachablösung“, verkündet fröhlich der Bruder, der künftig neben mir stehen wird. Und warnt: „Achtung, Vati ist ziemlich genervt.“

Nach mehrmaligen Versuchen hat meine Freundin, die etwas weiter vorne auf dem Gang stehen durfte, im Mitropa-Speisewagen Plätze für uns und die Kinder – bis dahin im Kleinkindabteil – ergattert. Die Kinder ordern Selters, wir bestellen jeder eine Tasse Kaffee. Nach 10 Minuten kommt der Kellner mit zwei Kännchen Kaffee und dem Ausdruck tiefsten Bedauerns in den Augen. Er könne leider nur im Kännchen servieren. Wir lassen uns durch den Stehplatzzuschlag nicht mehr aus der Ruhe bringen und lassen uns entschädigen durch Rehe und Fasanen links und rechts der Bahnstrecke. Wir sitzen.

Bis kurz vor Spandau. Vor dem Ausstieg knubbeln sich schon Menschen, Koffer, Kinderwagen. Die Tür zum nächsten Wagen läßt sich nicht öffnen, nur mit roher Gewalt. Rauchfahnen auf dem immer noch überfüllten Gang zwischen schweinchenrosa Abteiltüren und ungeöffneten Fenstern.

Horst Ziemann ist verschwunden, mit ihm die Unterschriftenliste. Postleitzahl und Ort gibt es nicht. Den Müllonkel aber gibt es: Im Blaumann und mit Quadratlatschen leistet er das, was dem Buffetier nicht möglich war. Er kommt durch mit dem Sack in der Hand, koste es, was es wolle. Die neue Bahn. Hermann-Josef Tenhagen

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