Ende der vornehmen Zurückhaltung

Die China-Reiseleitung im Wandel eines Jahrzehnts: Vom Erfüllungsgehilfen zum Landeskenner  ■ Von Anna Gerstlacher

„In China, da haben ReiseleiterInnen doch nichts zu tun“, so ein Kollege. All die arbeitsintensiven Tage oder nervenaufreibenden Nächte, wenn jemand krank wurde, die ich seit einem Jahrzehnt reiseleitend in China verbracht hatte, waren also „Spaß an der Freud'“?

Ende der siebziger Jahre, als im Rahmen der Öffnungspolitik auch der Tourismus als relevante Devisenquelle erkannt worden war, waren Chinareisen durchweg Abenteuer- oder Erlebnisreisen. Dies galt sowohl für die TeilnehmerInnen als auch für ReiseleiterInnen; waren vor Antritt der Reise doch nur wenige auserwählt gewesen, einen Blick hinter den „Bambusvorhang“ ins „Reich der Mitte“ zu tun. Die ehrlich-offene Begrüßung der Gruppe am heimatlichen Flughafen – „Ich mache das auch zum ersten Mal“ – stieß allerdings nicht immer auf die erhofften verständnisvollen Ohren; zu groß war die Angst vor dem fernen, geheimnisumwobenen, kommunistischen „Rot-China“.

Ausgebildet für die neue Profession war damals keiner der LeiterInnen, höchstens vielleicht ein wenig eingebildet; denn wir gehörten zu den „Auserkorenen“. Im günstigsten Falle Sinologie-StudentInnen mit gewissen Vorkenntnissen. Zögerlich-vorsichtig wurden die ersten Schritte im touristischen Neuland getan. Gebannt hatte frau/man den Ausführungen über die Errungenschaften und Erfolge des Sozialismus zu lauschen, die von der jeweiligen „lokalen Begleitung“ vorgetragen wurden. Aufkeimende Widersprüche bei den Besichtigungen (Mustereinrichtungen, zum großen Teil potemkinscher Art) wurden eilfertig unter den Tisch gekehrt oder mit „chinesischer Höflichkeit“ überspielt. Gemäß der chinesischen Anschauung „In China ist alles anders“ oder „China ist sowieso von Außenstehenden nicht zu verstehen“ wurde man sachte, aber bestimmt landauf, landab, von Norden nach Süden, von Westen nach Osten oder kreuz und quer durchs Land geleitet. Alles verlief nach Plan; Planabweichungen, selbst ein paar eigenständige, unbegleitete und unbewachte Schritte vor die Hoteltür, waren im Programm nicht vorgesehen.

Auch die ausländische ReiseleiterIn hielt sich entsprechend den Sitten des Landes zurück, und höchstens beim Mittagessen, bei wissenschaftlichen Abendvorträgen oder bei „Versammlungen“ auf dem Hotelzimmer – Bars oder Diskotheken waren noch nicht aus dem kapitalistischen Westen importiert – wurde auch sie von der Gruppe ums Wort gebeten. Ansonsten übte man sich in Zurückhaltung. Häufig war dies eine größere Herausforderung, als lange Vorträge über Grundsatzthemen zu halten, wie „Verhalten in China“, aber auch Fachthemen wie „Konfuzianismus“, „Wirtschaft“, „Chinesische Sprache und Schrift“, „Gesundheitswesen“, „Literatur und Kunst“, „Botanik“, „Gesundheits-“ oder „Bildungswesen“, seit neuestem auch „Steuern“, „Versicherungen“ und „Sozialwesen“.

In dem von den „Vier Modernisierungen“ bewegten China ist auch im touristischen Bereich die Zeit nicht stehengeblieben. Die Tage der vornehmen Zurückhaltung gehören längst der Vergangenheit an. Wie in allen westlichen Ländern wird das Programm vom Preis diktiert – gemacht wird nur, was bezahlt ist –, und es ist heute durchaus üblich, selbst das Mikrophon in die Hand. Die „MittlerInnen zwischen den Kulturen“, wie StudienreiseleiterInnen sich selbst definieren, ist in China aufgrund des großen kulturellen Sprungs gefragt. Das Reiseland oder, besser: der „Kontinent“ China will erklärt sein; die Reise wurde schließlich unter vielversprechenden Titeln wie „Auf den Spuren der Kaiser“, „Entlang der alten Seidenstraße“ oder „Auf dem Dach der Welt“ gebucht. Die Einhaltung des ausgeschriebenen Katalog-Programms ist oberstes Gebot für die Reiseleitung. In ihren Händen laufen die weitläufigen infrastrukturellen Fäden vom deutschen Veranstalter zum chinesischen Reisebüro zusammen. Neben diesem oft spagatartigen Drahtseilakt werden fachkundig, und am besten unmerklich, gruppendynamische Konflikte gesteuert. Rechtzeitige praktische Anweisungen in Sachen „Kleidungsfragen in tropischen Breitengraden“ sind genauso wichtig wie die Aufklärung über die „Geheimnisse der chinesischen Küche“. Selbstverständlich gratis mitzuliefern sind landesweit die besten Fotomotive oder Tips für günstige Einkäufe.

Die Beherrschung der so schwierigen Sprache stößt zwar bei den mitreisenden TouristInnen – zumindest anfangs – auf größte Hochachtung, doch auf offizieller chinesischer Seite ist nicht immer schiere Begeisterung angesagt. Zu viel kann die sprachkundige Reiseleitung mitbekommen. Wie weit jedoch Sprachkenntnisse oder Erfahrungen in Extremsituationen zum Tragen kommen, wie z.B. nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung, darüber wissen alle Bescheid, die mit ihren Gruppen nach dem 4. Juni 1989 das Land fluchtartig verlassen wollten.

Die früher zum Teil recht umstrittenen „ständigen chinesischen BegleiterInnen“ sind heute nicht mehr automatisch jeder Gruppe zugeteilt; diese Leistung gibt es nur gegen Bezahlung. Gelegentlich machte in den achtziger Jahren ein Gerücht die Runde, daß von chinesischer Seite langfristig geplant sei, die ausländischen Reiseleitungen ganz „abzuschaffen“. Sie sollten durch qualifizierte einheimische ReiseleiterInnen ersetzt werden. Obwohl bis heute ein entsprechend geschultes Personal nicht in Sicht ist, trifft diese Idee sicherlich bei manch westlichem Reiseveranstalter auf Gegenliebe: Die Kosten der Reiseleitungen würden noch niedriger: sie liegen heute bei Sätzen von brutto 100 bis 200 Mark ohne jegliche soziale Absicherung. Wirklich bedenkenswert ist daher die Frage, die häufig von seiten der Reisenden an die Reiseleitung herangetragen wird: „Sie sind doch begabt und wissen so viel. Warum machen Sie eigentlich nichts Anständiges?“