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Was heißt hier Beruf? Bei Aldi sind noch Stellen frei!

Ein Drittel aller Alleinerziehenden lebt von Sozialhilfe / Im Sozialamt schlägt ihnen die Haltung entgegen, ihr Antrag sei nicht berechtigt  ■ Aus München Corinna Emundts

Rattenloch. Es gibt Begriffe, die verwendet man einfach so, gedankenlos, ohne sie wörtlich zu meinen. „Ich wohne in einem Rattenloch“, sagt Lisa Tüley*, aber bei ihr trifft das genau. Ratten, Kakerlaken. Andere Haustiere kann man sich in der Münchner Leopoldstraße 254 nicht leisten. Dort am Ende der Stadt, wo an der Straße mit dem feinen Namen längst nicht mehr In-Discos und schicke Boutiquen, sondern Baugruben und spiegelnde Büroklötze zu finden sind, wohnt Lisa Tüley in einem achtstöckigen, heruntergekommenen Plattenbau. Hier leben vor allem SozialhilfeempfängerInnen, denen das Wohnungsamt eine Unterkunft vermittelt. Wenn Lisa Tüley ihre Wäsche auf den Flur stellt, weil in ihrem Zimmer dafür nun wirklich kein Platz mehr ist, muß sie damit rechnen, daß sich Mäuse und Ratten in die Kleider verbeißen.

Immerhin, ihr Zimmer sei frei von Kakerlaken, und auch der Uringestank, den sie wochenlang nach ihrem Einzug in der Nase hatte, ist mittlerweile weg. Dafür geht jeden Monat teures Geld für Desinfektionsmittel drauf, „anders halte ich es hier aber nicht aus“. Für dieses Loch zahlt das Wohnungsamt der „Grundstücksverwaltungsgesellschaft Leopoldstraße 254 mbH“ rund 2.000 Mark im Monat. Eine Wohnungsannonce hat Lisa Tüley dennoch nie aufgegeben, Maklergebühr und Kaution könne sie nicht zahlen, sagt sie.

In München beziehen bereits drei Viertel aller Alleinerziehenden Sozialhilfe: 14.484 Frauen und 472 Männer, die keineswegs nur aus unteren sozialen Schichten stammen. In Deutschland lebt derzeit mindestens jeder zehnte der 2,5 Millionen alleinerziehenden Mütter und Väter von Sozialhilfe, Tendenz steigend. Ein Mitarbeiter des Münchner Sozialamtes schätzt, daß Alleinerziehende ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger ausmachen.

Alleinerziehend zu sein prädestiniert zum Sozialhilfeempfänger. Wenn die finanzielle Unterstützung des Vaters der Kinder wegfällt oder sich auf ein Minimum reduziert, bleibt nur noch der Gang zum Sozialamt. Denn weiter berufstätig zu sein ist für viele unmöglich: Hort- und Betreuungsplätze fehlen, eine Tagesmutter wäre zu teuer.

Im vergangenen Jahr wurde in Bonn das neue Sozialhilfegesetz verabschiedet: Von 1. Januar 1994 an darf die Sozialhilfe um höchstens zwei Prozent im Jahr erhöht werden. Dies gleiche noch nicht einmal die jährliche Inflationsrate aus und komme somit einer „faktischen Kürzung“ gleich, sagt der Münchner SPD-Sozialhilfeexperte Hans Dieter Kaplan. „Ernsthafte Sorgen“ mache er sich, „daß sich die Fehler wiederholen, die vor sechzig Jahren gemacht wurden“: Da gleichzeitig Versicherungsleistungen wie Arbeitslosengeld gekürzt würden, entstehe eine immer größere Gruppe, die „brutal aus der Gesellschaft ausgegliedert wird“. Zugleich laufe, so Kaplan, bewußt eine Diffamierungskampagne, die SozialhilfeempfängerInnen als Faulpelze und Schmarotzer hinstelle. So kündigte Wolfgang Schäuble, CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, vor kurzem „weitere Einschnitte in das soziale Netz“ an. Er nennt es „Korrektur bei den Sozialleistungen“, vermeidet das Wort „kürzen“. Seine Begründung: „Wer arbeitet, muß ein höheres Einkommen haben als der Bezieher von Lohnersatzleistungen.“

Lisa Tüley lebt von Sozialhilfe – seit knapp zwei Jahren. Sie redet darüber, als ob es ihr peinlich sei. Erst habe sie nicht gewußt, daß sie überhaupt ein Recht auf Sozialhilfe habe, „dann bin ich aus Scham lange nicht zum Sozialamt gegangen“.

Bis die Kinder kamen, konnte sie sich selbst ernähren, arbeitete als Feinkost-Verkäuferin und Bedienung. Ihre Situation jetzt empfindet sie als „deprimierend“, allein schon einmal im Monat mit Kind bis zu zwei Stunden in der Schlange vor dem Kassenhäuschen des Sozialamtes warten zu müssen... „Man wird behandelt, als wolle man Geld aus ihrer eigenen Tasche“, sagt die dreifache Mutter. „Und dann mischen sie sich ins Privatleben ein“: Wer denn der Mann sei, der bei ihr ein und aus gehe, wurde sie im Sozialamt gefragt, dessen MitarbeiterInnen sich regelmäßig an der Pforte des Wohnheims informieren. Es handelte sich um ihren Schwager, für den sie gelegentlich koche und wasche, der ihr dafür „finanziell unter die Arme greift“. Die Deutsche hat sich von ihrem in der Türkei lebenden Mann getrennt. Seit dem Tod ihrer Mutter hat sie auch zur eigenen Familie keinen Kontakt mehr. „Meine Geschwister und mein Vater sind Rassisten“, sagt die gelernte Verkäuferin, dort brauche sie sich mit ihren Kindern nicht mehr blicken zu lassen.

Zwei Kinderbetten und ihr Bettsofa nehmen das Zimmer von Lisa Tüley fast vollkommen ein. Weil für ihren dreijährigen Sohn nicht genügend Platz war, mußte er vor neun Monaten in ein 40 Kilometer entferntes Heim ziehen – so lange, bis die Mutter eine Wohnung hat. Sie steht mit „Dringlichkeitsstufe 1“ auf der Warteliste für eine Drei-Zimmer-Sozialwohnung. Doch solche Wohnungen sind rar, zumal der Vermieter laut Gesetz bei jeder vom Wohnungsamt vermittelten Wohnung zwischen drei bis fünf Bewerbern auswählen kann. Bis jetzt habe sie eine Wohnung mit 40 Quadratmetern angeboten bekommen, „da war ich mit dem dritten Kind schwanger“.

Wenn Lisa Tüley aus dem Fenster ihres 20 Quadratmeter großen Zimmers nach unten schaut, kann sie die Ratten am hellichten Tage beobachten. Sie tummeln sich auf den herabgeworfenen Kinderwindeln, Küchenmüllabfällen und aufgeschlitzten Matratzen.

Auf der anderen Seite des Hauses wäre zwar ein Spielplatz, doch der gleicht eher einem Schrottlager. Ihre Kinder lasse sie dort nicht spielen, weil sie Angst habe, ihnen falle ein Fernseher auf den Kopf. Im Flur können die Kinder auch nicht toben, weil dort regelmäßig Rattengift ausgelegt wird. Dort wäre es ohnehin stockduster, in den fast fensterlosen Fluren wird das Licht erst abends eingeschaltet. Ihr drittes Kind mußte die 27jährige selbst im Zimmer entbinden, weil der Notarzt zwar schnell kam, die Gebärende aber nicht rechtzeitig fand. Als sie die Geburtsurkunde ihrer Tochter zum Sozialamt trug, lautete der Kommentar des Sachbearbeiters: „Schon wieder ein Ausländerkind.“

Auch die 35jährige Lehrerin Susanne Kluge mußte sich dumme Bemerkungen von ihrem Sachbearbeiter anhören: Nachdem ihr Sohn drei Jahre alt geworden war, wurde die alleinerziehende Mutter darauf hingewiesen, daß sie jetzt arbeiten müsse. „Wer spricht denn von Ihrem Beruf? Aldi sucht doch immer Leute“, lautete die Antwort, als sie sagte, daß es schwierig sei, in ihrem Beruf sofort eine Halbtagsstelle zu finden. Ähnlich ging es einer 28jährigen Studentin: Die Mutter eines Schulkindes wurde von einem Sachbearbeiter beschieden, sie solle doch ihr Studium abbrechen und einen Putzjob annehmen.

„Obwohl die Sozialhilfe so knapp bemessen ist, daß es zu nichts als dem nackten Überleben reicht“, sagt eine Mitarbeiterin des Münchner Evangelischen Beratungsdienstes für Frauen, „haben die Frauen oft das Gefühl, als müßten die Sachbearbeiter sich das Geld von ihrem Privateinkommen absparen.“ Bei der „Pro familia“- Beratungsstelle hat man darüber hinaus den Eindruck, „daß die Frauen von den Sachbearbeitern nicht darüber informiert werden, was ihnen zusteht“. Den Frauen schlage grundsätzlich die Haltung entgegen, ihr Anliegen sei unberechtigt.

Auf dem Küchentisch der Eineinhalb-Zimmer-Wohnung liegt ein aufgeschlagenes Anzeigenblatt – Rubrik: Spielsachen. „Mein Kind ist ein Secondhand-Kind“, sagt Gaby Rischmüller. Auch für sich selbst kann sie seit der Geburt ihres Kindes keine neuen Kleider mehr kaufen. Das sei allerdings nicht so schlimm, meint sie, sie habe noch genügend Kleidung aus ihrer Zeit als Chefsekretärin bei der Bank. Schlimmer sei das Gefühl, nach über zwanzig Jahren Berufstätigkeit plötzlich von Sozialhilfe leben zu müssen. Die „Behördenrennerei“, die zeitlich wie ein Drittel-Job sei. Die Angst, „in ein Milieu zu rutschen, in dem die Regel gilt: Wer besser kämpfen kann, bekommt mehr“. Das ständige Rechnen. Sie kaufe nur noch auf Flohmärkten und über Annoncen ein, drehe „jeden Zehner“ um. Kein Sport mehr, kein Theater. Babysitter zu teuer – statt dessen: zu Hause bleiben beim Kind. „Was da emotional abläuft, kann ich gar nicht beschreiben“, sagt sie.

Alleinerziehende SozialhilfeempfängerInnen sind besonders auf Freunde und Familie angewiesen. Doch gerade bei ihnen funktioniert dieses soziale Netz oft nicht mehr. Alleinerziehend – der Begriff trifft Gabi Rischmüller mit seiner ganzen Bedeutung. Von ihrem damaligen Freund, einem gutverdienenden Angestellten, ließ sich die 42jährige Bankangestellte zu einem Kind „überreden“, erzählt sie, weil er ihr Familienleben, Ehe und ein gemeinsames Haus versprach. Als sie aus einem Urlaub zurückkam, stellte sie fest, daß er das bereits gekaufte Grundstück wieder verkauft hatte und sich von ihr trennen wollte. Am gleichen Tag erfuhr sie, daß sie schwanger war.

Sie entschied sich für das Kind, „weil eine Abtreibung aus moralischen Gründen nicht in Frage kam“. Der Kindsvater meldet sich seitdem nicht mehr bei ihr. Er habe beim Jugendamt sogar gefälschte Dokumente vorgelegt, um keinen Unterhalt zahlen zu müssen, sagt Gaby Rischmüller. Zu ihrer Mutter hat sie seit dem Tod des Vaters „kein gutes Verhältnis mehr“. Die Mutter habe ihr noch nie Hilfe angeboten, so Gaby Rischmüller. Seit der Geburt vor zehn Monaten sei sie kaum noch in der Lage, soziale Kontakte zu pflegen, erzählt sie. Sie habe Panik vor der Zukunft, mache sich Sorgen über die Zeit nach dem Ende ihres Erziehungsurlaubs. Weil sie für ihre Tochter sorgen will, kann sie ihre alte Ganztagsstelle nicht mehr annehmen. Sie hofft, einen Halbtagsjob zu finden und wieder eigenes Geld verdienen zu können. „Ich empfinde es als sozialen Abstieg, als wahnsinnig demütigend, so wie jetzt um jeden Pfennig betteln zu müssen.“

Information und Beratung für Alleinerziehende: VAMV (Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V.), Bundesverband, Von- Groote-Platz 20, 53173 Bonn,

Telefon: (0228) 35 29 95,

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