: Rosa Luxemburg, eine Jüdin aus Polen
Dem „jüdisch-internationalen“ Denken Rosa Luxemburgs blieb der nationale Patriotismus der Sozialisten immer suspekt ■ Von Jürgen Elsässer
Im Berliner Rundfunk soll in meiner ,Grabinschrift für Rosa‘ die Zeile ,eine Jüdin aus Polen‘ kritisiert worden sein – wahrscheinlich, um die ,Empfindlichkeit weiter Kreise in diesem Punkt‘ zu schonen“, notierte Brecht am 2. Januar 1949 in sein Arbeitsjournal. Die genannte „Empfindlichkeit weiter Kreise“ zeugt von der antisemitischen Massenstimmung, die beide deutsche Staaten vom Nazismus geerbt hatten. Aber hätte nicht auch Rosa Luxemburg selbst diese Grabinschrift kritisiert? Hätte sie sich nicht dagegen verwahrt, in den Kategorien von Volkszugehörigkeit definiert zu werden? Hatte ihre Devise nicht immer gelautet: „Das Vaterland der Proletarier ist die Internationale“.
Rosa Luxemburg wurde in dem damals zu Rußland gehörenden Städtchen Zomosc geboren und erlebte von Anfang an den wütenden Antisemitismus des Zarenreiches. „In diesem Reich, wo jeder Hund seines Vorgesetzten oder der sozial höheren Schicht ist, ist der Jude der Hund noch des Elendsten, und alle Fußtritte landen schließlich von der Spitze der sozialen Pyramide herab bei ihm“, berichtet ihr Biograph Paul Fröhlich. Dennoch hatte es die Familie Luxemburg zu Wohlstand gebracht und ihren Kindern eine kosmopolitische Bildung ermöglicht: Von ihrer Mutter lernte die junge Rosa alles über polnische und deutsche Klassik, über jüdische Religion und russische Dichtung. Diese doppelte Erfahrung – daß nationale Unterdrückung widerwärtig, daß kosmopolitische Entfaltung möglich ist – prädestinierte sie dazu, den papierenen Internationalismus der SPD wirklich zu leben – und in der Theorie zu radikalisieren. Das brachte sie von Beginn ihres politischen Wirkens an in Konflikte, denn die meisten Polen strebten „natürlich“ die nationale Selbstbestimmung in einem eigenen Staat an, und ganz in diesem Sinne agitierte auch die große sozialdemokratische Partei PPS. Nicht so Rosa Luxemburg, die zusammen mit Leo Jogiches eine kleine internationalistische Partei gründete, die Sozialdemokratische Partei Polens und Litauens (SDKPiL). Sie definierte jede Nation, egal ob groß oder klein, als bloßes Konstrukt „bürgerlicher und kleinbürgerlicher Klassen“. Da das Gerede von der „nationalen Selbstbestimmung“ die Unterdrückten nur von der politischen und wirtschaftlichen Selbstbestimmung ablenke, bekämpfte sie die national-polnische Bewegung und forderte statt dessen die Arbeiter zwischen Bialystok und Krakau auf, zusammen mit den russischen Proletariern den Zaren zu stürzen und in Rußland eine demokratische Republik zu errichten. Aus ihrem Antinationalismus schlußfolgerte Rosa Luxemburg jedoch nicht, gegenüber nationaler Verfolgung gleichgültig zu sein. Im Gegenteil forderte sie dazu auf, diese als „brennende Wunde, als Schande“ zu empfinden. Nur sah sie die Lösung nicht in der Konstruktion neuer Nationen und Staaten, sondern in der Destruktion der bestehenden. Als nach dem 1. Weltkrieg die Vielvölkerstaaten (Österreich- Ungarn und Rußland) zerfielen, kommentierte sie die „Sezessionen“ mit Hohn und Spott: „Der Nationalismus ist augenblicklich Trumpf. Von allen Seiten melden sich Nationen und Natiönchen mit ihren Rechten auf Staatenbildung an. Vermoderte Leichen steigen aus hundertjährigen Gräbern, von neuem Lenztrieb erfüllt, und ,geschichtslose Völker‘, die noch nie selbständige Staatswesen bildeten, verspüren einen heftigen Drang zur Staatenbildung ... Auf dem nationalistischen Blocksberg ist heute Walpurgisnacht.“
Pogrome in Russisch-Polen und rassistische Hetze im Deutschen Reich mochten sie immer wieder daran erinnert haben, wie notwendig der Kampf gegen den nationalen Haß war; sie selbst wurde Opfer dieses Hasses. So schreiben konservative deutsche Zeitungen schon im Dezember des Revolutionsjahrs 1905: „Die galizische Jüdin Rosa Luxemburg ist jetzt die Tonangeberin im Vorwärts, dem sozialdemokratischen Zentralorgan. Unter dem Einfluß dieser jüdischen Ausländerin ist der Vorwärts in die extremsten revolutionären Bahnen eingelenkt. (...) Weshalb läßt man die Aufruhr predigende galizische Jüdin im Lande?“ Gerade der Antisemitismus zeigt ihr indes, daß nicht nur die „herrschenden“ Nationen das Gift von Intoleranz und Ausgrenzung in sich trugen, sondern auch „beherrschte“ Nationen wie die polnische. Als im Jahre 1910 in Warschau ein publizistisches Kesseltreiben gegen die Juden einsetzte und sich selbst ein Teil der Linken befleißigte, über „die Judenfrage“ zu räsonnieren, machte Rosa Luxemburg deutlich, daß sie unter der „Freiheit des Andersdenkenden“ kein Laissez-faire für solche Debatten verstand. – Auch im Widerstand gegen den Antisemitismus lehnte Rosa Luxemburg die Sammlung der Verfolgten unter der Fahne des „nationalen Selbstbestimmungsrechtes“ ab. Da sie in der Bewahrung oder Neuschaffung jüdischer Nationalität ein Hindernis auf dem Weg zur internationalen Verbrüderung aller Arbeiter sah, polemisierte sie nicht nur gegen Pläne für eine israelitische Heimstatt in Palästina, sondern auch gegen das Programm einer national-kulturellen Autonomie innerhalb Rußlands, wie es die jüdisch-sozialistische Arbeiterorganisation „Bund“ propagierte. Das Tragische an den historischen Antizionisten war nicht, daß sie für diese Utopie kämpften, sondern daß sie daran auch dann noch festhielten, als die neue („dritte“) Internationale längst zum Instrument von Stalins Machtpolitik degradiert und das Projekt einer jüdischen Staatsgründung in Palästina zum einzigen Ausweg vor Hitlers „Endlösung“ geworden war.
Freilich stimmt es, daß Rosa Luxemburg sich nie als Jüdin bezeichnete und als ihr Vaterland ausschließlich die Internationale definierte – doch genau darin repräsentiert sie eine spezifisch jüdische Tradition. Ihre persönliche Erfahrung in Zamosc, Warschau und Berlin, daß Nationalismus immer zu Diskriminierung der anderen, insbesondere der Juden, führt, hat in ihr die Ablehnung jeder Nation wachsen lassen. Dieses biographisch fundierte Wissen teilte sie mit vielen anderen Kommunistinnen und Kommunisten jüdischer Herkunft, die ihr Bekenntnis zum Internationalismus über ihre nationale Zugehörigkeit stellten: etwa mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches, dem Gründer der anti- patriotischen SDKPiL; mit Leo Trotzki, der von einem permanenten Prozeß zur Weltrevolution träumte. Nicht nur für diese Kommunisten, sondern auch für radikale Freigeister wie Kurt Tucholsky und Carl v. Ossietzky läßt sich sagen: Sie alle wollten die ihnen zugeschriebene Volkszugehörigkeit abstreifen und Weltbürger werden – und genau das zeichnete sie, die Menschen jüdischer Herkunft, vor ihren Mitstreitern aus.
Im Unterschied zu den „jüdischen“ Intellektuellen hatten ihre nichtjüdischen Genossen in der Regel Schwierigkeiten, sich zu ihrer „nationalen Identität“ zu bekennen. Man rief den „Großen Vaterländischen Krieg“ aus (Stalin) oder wetteiferte mit den Nazis um die Verteidigung Deutschlands gegen die „Schmach von Versailles“ (Thälmann). Muß man sich wundern, daß dieser „nationale Sozialismus“, sobald er herrschte, zur Verfolgung der Juden schritt? Mit ihnen, den schon immer als „ewige Wanderer“, als „Wurzellose“ Verfemten, war kein Staat zu machen. Diese Konsequenzen des nationalen Sozialismus illustriert nicht nur das Beispiel Polen, wo die von Rosa Luxemburg bekämpfte sozialpatriotische PPS den antisemitischen Diktator Pilsudski hervorbrachte. Auch in der DDR stimulierte eine deutschnationale Kampagne Anfang der fünfziger Jahre den Antisemitismus: Das propagandistisches Trommelfeuer für die Wiedervereinigung, gegen den „Alliiertenkanzler“ Adenauer und die „geistige Marshallisierung des großen deutschen Kulturerbes“ verband sich mit einer in allen Ländern des sowjetischen Blocks angelaufenen Hetzkampagne gegen „Kosmopoliten“ und „Zionisten“. In der DDR führte diese Klimaveränderung zu einer großen Verängstigung der noch im Lande gebliebenen Juden, vier von acht Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde flohen. Im Zentrum des Kesseltreibens stand das ZK-Mitglied Paul Merker, der als „zionistischer Agent“ beschuldigt und nach einem mehrjährigen Prozeß 1955 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Der hellhörige Brecht hatte dieses Wiedererstarken völkischer Tendenzen schon früh registriert. Am gleichen Tag, an dem er in seinem Arbeitsjournal von den Widerständen gegen die Grabinschrift für die „Jüdin aus Polen“ berichtete, vermerkte er: „Bei dem Aufbaulied der FDJ bat mich ein Berliner Gruppenleiter, die Zeile ,und kein Führer führt aus dem Salat‘ zu überprüfen, denn Hitler interessiere niemand mehr, da er eine olle Kamelle sei“. Brechts Kommentar: „Aber olle Kamellen verwandeln sich, wenn unbeachtet, leicht in olle Lorbeeren.“ In diesen völkischen Tendenzen zeigt sich eine Parallelität von nationalen Sozialisten und Nationalsozialisten. Rosa Luxemburgs Antinationalismus hätte innerhalb der Linken als Gegengift wirken können, doch gerade ihre diesbezüglichen „polnischen Schriften“ wurden nicht nur von den Stalinisten, sondern auch von den Sozialdemokraten dem Vergessen überantwortet – zu kraß hätten sie den vaterländischen Bekenntnissen etwa der Schumacher-Ära widersprochen. Die Schiffbrüchigen des 20. Jahrhunderts werden die Flaschenpost trotzdem lesen: Spätestens heute, angesichts des nationalen Wütens von Sarajevo bis Solingen, ist die verschüttete „jüdisch-internationale“ Tradition der Rosa Luxemburg von verzweifelter Aktualität.
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