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Jäger des verlorenen Vinyls

Ein Schallplatten-Fan auf der Suche nach dem schwarzen Gold in den USA. Doch die Reviere sind abgegrast, die Schätze ausgegraben  ■ Von Frank Wache

Oliver Grabow glaubte einem Schatz auf der Spur zu sein. Er war einem vagen Hinweis gefolgt, der ihn um die halbe Welt führte: Von Hamburg nach Cincinnati in den Vereinigten Staaten. Dort, in einer verlassenen Fabrik, irgendwo am Stadtrand, findet Oliver Grabow, wonach er jetzt schon seit Jahren sucht. Durch das löchrige Dach der alten Maschinenhalle tropft der Regen. Schimmel wächst an den Wänden. Seit Jahrzehnten hat hier niemand mehr das Fenster geöffnet. Fahles Licht scheint durch die verrußten Scheiben der ehemaligen Fabrik. Es ist still wie in einer Kirche. Oliver Grabow klopft das Herz, als sein Blick auf die zahllosen vergilbten Pappkartons fällt, die den Boden bedecken. Darin lagert sein schwarzes Gold: viele tausend Kilo Musik, eingeritzt in das Vinyl der Schallplatten. Einmal der erste sein in einem noch unberührten Revier. Einmal eine Entdeckung machen, die den „ganz großen Deal“ bedeutet. Davon träumt jeder Schallplattenjäger. Alles scheint perfekt.

Im Chaos aus Dreck, Kartons und Plastikplanen richtet sich der blonde Hanseat ein Plätzchen ein, wo er verschiedene Titel auf seinem tragbaren Uralt-Plattenspieler anhören kann. Aus dem im Deckel eingebauten Lautsprecher krächzt die Musik schwarzer Soul-Bands: The Clones of Doctor Funkenstein, The Soul Tornadoes, James Brown ...

Die meisten der mehr als 20 Jahre alten Scheiben sind noch versiegelt. Kein Kratzer hat die empfindlichen Tonträger verletzt. Oliver hat tatsächlich einen Schatz entdeckt. Aber er kann ihn nicht heben. Zwanzig Jahre lang gaben die Schallplatten keinen Ton von sich. Als vergessener Schrott schliefen sie vor sich hin. Dann, in den vergangenen zwei Jahren, als viele Plattenfirmen Nachpressungen von alten Titeln einstellten, tauchten Plattenjäger aus New York, England, Japan auf und legten viel Geld für altes Vinyl auf den Tisch. Heute verlangt der geschäftstüchtige Besitzer, ein Mormone, zehn bis sechzig Dollar pro Stück. Oliver stöhnt: 6.500 Dollar – die Hälfte seines Budgets – hat ihm der Mormone für 450 Platten abgeknöpft.

Früher war der Plattenkauf in den USA für den 27jährigen reines Sammlervergnügen. Als er und seine Freunde vor einigen Jahren dann anfingen, Soul-Musik in Szene-Clubs an der Hamburger Reeperbahn aufzulegen, wuchs das Interesse an Originalscheiben. Oliver und sein Freund Michael Dubbert entschlossen sich, aus ihrer Sammlerlust ein kleines Geschäft zu machen, und gründeten den Schallplattenversand „Soulution“. Weil es keine neuen Aufnahmen mehr auf Vinyl gibt, bleibt den beiden nur das Herumschnüffeln im Ursprungsland der Musik, den Vereinigten Staaten.

In St. Louis, 500 Kilometer südlich von Cincinnati, bekommt Olli, wie ihn seine Freunde nennen, den Tip, Tony, einen Discjockey, anzurufen. Tony ist ein alter Hase im Plattengeschäft und weiß, wieviel Dollars ein guter Hinweis bedeuten kann. Erst nachdem er selbst ein paar teure Exemplare an Olli verkauft hat, schickt er den Plattenjäger zu einer älteren schwarzen Dame, die ihre Platten im Keller neben der Waschmaschine aufbewahrt. Als sie erfährt, daß sich der Gast aus Deutschland für schwarze Musik interessiert, zeigt sie ihm alte Fotos von sich zusammen mit vielen bekannten Soul- Größen. Am meisten beeindruckt Oliver das Bild, auf dem sie den zehnjährigen Michael Jackson im Arm hält.

Die zweite Adresse in St. Louis liegt am anderen Ende der Stadt, im Viertel der Reichen. Dort wohnt das Rentnerehepaar Disley, das früher ein Schallplatten-Geschäft besaß. Im Keller entdeckten Oliver und Michael, der inzwischen aus Deutschland nachgeflogen ist, mehr als hunderttausend Singles. Betty Disley, 70 Jahre alt, zeigt stolz ihren Besitz her und gesteht lächelnd: „Ich sammle selbst Platten. Am liebsten Rockabilly.“ Michael und Oliver kaufen der Alten mehrere hundert Singles ab. Der Kofferraum ihres Mietwagens füllt sich.

Der nächste Hinweis führt die beiden wieder nördlich nach Louisville, einer düsteren Industriestadt. Dort soll es einen Laden mit dem treffenden Namen „Hard to Find“ (Schwer zu finden) geben. Mehrmals fahren die Sammler an der richtigen Adresse vorbei. Der letzte Sturm hat das Schild an der Straße umgeblasen. Niemand hat es wieder aufgerichtet. „Hard to find“ stellt sich schließlich als Wohnung heraus, in der Mister Ellis mit seinen Platten wie mit einer Familie lebt. Kein Raum im Haus ohne schwarzes Plastik. Im Wohnzimmer, in der Küche, im Badezimmer, auf der Toilette und sogar in einem ausrangierten Riesenkühlschrank im Keller stapeln sich Vinyl-Scheiben. Anstelle von Tapeten pflastern Plattenhüllen die Wohnung. Ellis nennt sich selbst einen „Vinyl-Junkie“. Seine Frau hat sich vor Jahren von dem Süchtigen getrennt.

Ausgrabungen an verschiedenen Stellen von Ellis' Wohnung überraschen sogar die abgebrühten Plattenjäger aus Hamburg. Da finden sich Aufnahmen von japanischen Bands, die in unsäglicher Weise Hits der 70er Jahre nachspielen. Auf einer Scheibe liest Boris Karloff, der Darsteller des Frankenstein-Monsters, Märchen für Kinder vor. Ellis, der seine Schätze in die ganze Welt versendet, freut sich, daß er wieder einmal Menschen im Haus hat und erzählt von seiner verkrachten Existenz. Zur Army hat er sich freiwillig gemeldet – nach Casablanca, ohne zu wissen, wo das liegt. Mehrmals wurde er überfallen. Einmal fesselte man ihn, im Beisein seiner Kinder. Seitdem hält der 50jährige christliche Predigten im Gefängnis. Oliver und Michael atmen tief durch, als sie die Tür hinter „Hard to find“ schließen.

Die schwarze Soul-Musik der späten 60er und frühen 70er Jahre, auf die es die beiden Sammler abgesehen haben, erlebt derzeit eine Renaissance. Es ist die Musik aus Gangsterfilmen, in denen Schwarze in Amerika noch mit Afro-Frisuren, fiesen Brillen und riesigen Schlitten auftraten. Es ist die Musik von James Brown, dem „Paten des Soul“, der den Musikstil mitprägte, indem er Musikelemente des Blues, Jazz und des Gospels in großen Arrangements und mit sehr schnellem Rhythmus unterlegte und eine mitreißende Tanzmusik hervorbrachte. In Clubs rund um den Globus wird Soul wieder gespielt. Schwarz ist wieder in. Auch bei ganz jungen Leuten, die gerne Rap oder HipHop hören. Rapper aus den USA basteln sich viele Hits per Computer aus alten Soul-Nummern zusammen. Nach vierwöchiger Reise durch fünf amerikanische Staaten ist den beiden Schallplattenjägern klar, daß die Reviere abgegrast und alle verborgenen Schätze ausgegraben sind. Der Sammlerspaß von früher ist umgeschlagen in ein knallhartes Geschäft. Beinahe in jedem Plattenladen waren schon Händler aus Japan, die „mit einem Travellerscheck-Bündel so dick wie Brikett“ bezahlten, wie ein Liebhaber traurig berichtet.

Auf riesigen Plattenbörsen in Tokio, New York und London werden bis zu mehreren hundert Dollar pro Stück bezahlt. In diesen Ländern hat die silbrige Compact- Disc und die bereits erhältliche digitale Cassette das schwarze Vinyl fast vollständig aus den Ladenregalen verdrängt.

Das gleiche wird in Deutschland geschehen, prognostiziert ein Sprecher der Plattenfirma Polydor in Hamburg. Die Nachfrage nach Langspielplatten sei „katastrophal“, klassische Musik auf Vinyl sei bereits „gestorben“, und im Pop-Sektor gehe es „stark bergab“. Der Polydor-Sprecher schätzt, in Zukunft werde Vinyl nur noch in limitierten Auflagen für Liebhaber zu Liebhaberpreisen gepreßt.

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