piwik no script img

Im Kosovo ist alles politisch

Seit mehr als drei Jahren beherrschen 25.000 serbische Soldaten und Polizisten die ehemals autonome Provinz Kosovo / Unrecht und Willkür sind für die albanische Mehrheitsbevölkerung zur Normalität geworden  ■ Aus Prisština Peter Dammann

Die Stille der Nacht wird nur durch das trockene Knallen der Gewehrschüsse und das Heulen ausgesetzter Hunde unterbrochen. Noch vor dem Morgengrauen ruft der Hodža aus scheppernden Lautsprechern zum Gebet in die Moschee. Das Krähen der Hähne kündigt das Tageslicht über den östlichen Hügeln der 200.000-Einwohner-Stadt Priština an. Schwärme schwarz gefiederter Dohlen fliegen von den faulenden und gärenden Müllhaufen am Bahngleis hoch. Dann besetzen serbische Milizionäre in violettschwarzen Kampfanzügen eine Kreuzung. Sie stoppen Pferdefuhrwerke, Ochsenkarren und Automobile, um die Papiere der auf den Basar fahrenden Albaner zu kontrollieren. Auf dem Markt stieben die Kinder in alle Himmelsrichtungen auseinander, als ein stämmiger Uniformierter einen etwa zehnjährigen Zigarettenverkäufer am Arm durch die Menschenmenge zieht. Die Maschinenpistole baumelt lässig von der linken Schulter des Milizionärs, der sein Opfer an den leeren Pappkartons vorbeizerrt. Dahinter haben sich die anderen Kinder versteckt, die eben noch, laut „Marlboro! Holiday! Assis! Präsident! und Best!“ rufend, ihre Waren angeboten hatten. Kaum ist der Bewaffnete mit dem schluchzenden Jungen, dessen Zigaretten und Bargeld er für sich behalten wird, verschwunden, kommen die Kinder wieder hervor und preisen erneut ihre Zigaretten an.

Das Hauptquartier der Armee Rest-Jugoslawiens (Serbien und Montenegro) im Zentrum der Stadt ist von Wachposten in schußsicheren Westen und mit Sturmgewehren im Anschlag abgeriegelt. Allein in den letzten zwei Monaten wurde in den Nachrichten von TV Belgrad über Verhaftungen von 88 Albanern berichtet, die militärische Gruppen gegründet haben sollen. „Diese Verhaftungen gehören zu der propagandistischen Kampagne der Serben“, sagt der Sekretär des „Komitees zur Verteidigung der Menschenrechte“, Zenum Çelaj. Zehn dieser Albaner wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatten Flugblätter verteilt, in denen sie die Bevölkerung aufforderten, Nahrungsmittelvorräte für den Fall eines Krieges anzulegen. Die Richter hatten dadurch die „territoriale Integrität Jugoslawiens“ verletzt gesehen.

„Wenn der Krieg in Bosnien beendet ist, dann wollen sie hier zuschlagen. Das Ziel der Kampagne ist, eine Bedrohung der Serben durch die Albaner zu konstruieren“, erklärt Çelaj. Auf dem Schreibtisch springt das Fax-Gerät an. In Podujevo wurde vor zwei Stunden ein 33jähriger Albaner nach einer Hausdurchsuchung erschossen, lautet die Nachricht – das siebte Opfer in den letzten sechs Wochen. „Wir bekommen jeden Tag Hunderte von Meldungen über Plünderungen, Beschlagnahmungen, Vertreibungen aus Wohnungen, Durchsuchungen, Verhaftungen und Morde“, berichtet Çelaj. Vor zwei Monaten ist die Polizei auch in sein Büro gekommen. Fotos von dem physischen Terror an der albanischen Zivilbevölkerung, „Dokumente aus der serbischen Folterwerkstatt“ (Spiegel) wurden beschlagnahmt, Computer-Disketten zerbrochen und ein Mitarbeiter zusammengeschlagen.

Nicht nur albanische Menschenrechtsorganisationen, sondern auch die Hilfsorganisationen beobachten die serbischen Besatzer mißtrauisch. „Wir wurden sogar verdächtigt, Waffen zu schmuggeln“, lacht Martin Pjetri, der Manager von der Hilfsorganisation „Mutter Teresa“. „Natürlich ist das Unsinn, aber trotzdem sind unsere Räume durchsucht worden. Bestimmt wurden in diesem Büro Wanzen installiert.“ „Mutter Teresa“ versorgt 300.000 Menschen mit Lebens- und Arzneimitteln. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die wirtschaftliche Lage der Albaner durch das doppelte Embargo – das Embargo der Vereinten Nationen gegen Rest-Jugoslawien und das Embargo Serbiens gegen die Kosovo-Albaner – dramatisch verschlechtert. Eine Million Menschen haben mittlerweile kein Einkommen mehr.

Vranjevci ist das „Kalkutta Prištinas“. In dem slumartigen Viertel mit den staubigen, nach jedem kurzen Regenguß sofort schlammigen Sandwegen leben 50.000 Albaner und Roma in armseligen Hütten. Hier begannen die meisten Demonstrationen für die Unabhängigkeit des Kosovo. „Wir nennen diesen Stadtteil jetzt ,Hügel der tapferen Leute‘“, erklärt Jak Mita, der Präsident von „Mutter Teresa“. Ein Mitarbeiter kommt angelaufen und berichtet atemlos, daß ein Beamter der Finanzpolizei die Zollpapiere für die Hilfslieferung aus Österreich kontrollieren will. Der grauhaarige Mita eilt zurück ins Büro. Er hat Angst, daß die Miliz seine Leute schlagen wird. Zum Glück ist es nur ein Zivilbeamter, der kurz in den Zollpapieren zwischen den Zehnkilodosen Milchpulver für Säuglinge und Flaschen mit Shampoo gegen Filz- und Kopfläuse blättert.

Die Poliklinik von „Mutter Teresa“ in dem zweistöckigen Privathaus hat nur fünf Behandlungsräume. Keiner ist größer als 12 Quadratmeter. Einige sind nicht einmal durch einen Vorhang von den wartenden Patienten abgetrennt. Täglich werden hier bis zu 500 Kinder und Erwachsene behandelt. Die 41 Ärzte und 24 Krankenschwestern arbeiten kostenlos. Sie teilen sich ihren Dienst an sieben Tagen in der Woche. In einem Monat soll ein zusätzlicher Raum fertig sein, damit hier Kinder geboren werden können. Die Frauen haben Angst, in serbischen Krankenhäusern zu gebären. Sie befürchten, daß die Serben sie bei der Geburt einfach sterilisieren, weil die Serben in der hohen Geburtenrate der Kosovo-Albaner – sieben Kinder pro Haushalt sind durchaus üblich – eine versuchte „Albanisierung“ des Gebietes sehen. Viele gebären ihre Kinder zu Hause – sie haben keine 100 Mark für eine ambulante Geburt in einer albanischen Privatklinik.

Der Terror des Belgrader Regimes geht weit über die Propaganda hinaus. Bei einer Demonstration am 27. März 1992 wurde der Koranschüler Mustaf Veseli ermordet. Der Rektor Qazim Qazimi zeigt ein ausgerissenes handgroßes Stück brauner Wellpappe: „Er wurde von serbischen Polizisten angeschossen und muß gemerkt haben, daß er sterben wird.“ Mit rotem Kugelschreiber hatte der sterbende Junge, der in einen Keller gekrochen war, seinen Namen und den Namen der Koranschule auf die Pappe geschrieben, damit der Rektor von seinem Tod informiert wird. Qazimi selbst wurde am 23. Juni 1992 um 23 Uhr von der Miliz gekidnappt. „Sie haben mich geschlagen und mit einer Pistole im Rücken zur Medresse geführt. Mehr als 100 Milizionäre und Panzerwagen hatten die Schule umzingelt. Ich mußte dem Pförtner befehlen, das Tor zu öffnen.“ Drei Tage war die Schule von der Polizei okkupiert, anschließend waren die Lampen und Fenster zerschlagen, alle Schränke und Türen aufgebrochen, die 200 Betten der Schüler zerstört, die Wände hatten die Besetzer mit Parolen wie „Hier ist Serbien“ und „Rugova (der albanische Präsident im Kosovo) ist schwul“ beschmiert.

Trotz des Terrors lernt der 16jährige Artom* gerne in der Koranschule. Seine Eltern leben in Bielefeld, wo er die fünfte bis achte Klasse besucht hat. Mit dem Diplom aus Priština kann er in Bagdad, Tripolis oder Kairo studieren. „Die serbischen Polizisten sind Schweine“, sagt Artom, „sie schlagen uns tot.“ Immerhin können Artom und seine Mitschüler halbwegs ruhig ihren Studien nachgehen. Die Schüler der Hauptschule „Gjergj Fishta“ haben es schwerer: Vor drei Jahren wurde die Anstalt von den Serben geteilt. 75 serbische Schüler bekamen die Hälfte des Gebäudes, fünf bis zehn Schüler teilen sich ein Klassenzimmer. Die 1.543 albanischen Schüler müssen sich – auf drei Tagesschichten verteilt – in der anderen Hälfte des Schulgebäudes drängeln. Sie werden zum Teil im Treppenhaus unterrichtet, haben kaum Unterrichtsmaterial, und die Lehrer bekommen kein Gehalt. Fünfmal wurde der Rektor von der Miliz zu „Informationsgesprächen“ zitiert. „Wir sollen einen serbischen Lehrplan akzeptieren, der die Existenz unseres Volkes leugnet. Im Geschichtsunterricht kommen wir nicht vor, und im Musikunterricht ist das Singen albanischer Lieder verboten“, sagt der Schulleiter. Versammlungen sind verboten, selbst Lehrerkonferenzen müssen geheim abgehalten werden. Die Heizung wird um 13 Uhr, wenn die serbischen Schüler den Unterricht beendet haben, abgestellt.

„Nein, wir sprechen und spielen nicht mit serbischen Kindern. Sie haben uns unsere Schulen weggenommen“, sagt der Sohn von Martin Pjetri, dem Geschäftsführer von „Mutter Teresa“. Der 10jährige lümmelt sich auf dem Sofa und schmeißt den alten, gelbstichigen Farbfernseher an. Der Musikkanal MTV wird viermal in der Woche von TV Priština aufgezeichnet und gesendet. „And I say hey what's going on“ von den „4 Non Blondes“ erfüllt den Raum. Der Junge summt mit. Er hat gerade seinen besten Freund besucht, der diese Nacht mit seiner ganzen Familie die Stadt verlassen wird. Seine Eltern haben viel Geld an eine Schlepperorganisation gezahlt, die sie illegal nach Deutschland einschmuggeln soll. Über 300.000 Albaner haben in den letzten drei Jahren den Kosovo verlassen.

Auch die zwanzigjährige Medizinstudentin Ilirjana* sieht für sich in den nächsten Jahren keine Perspektiven im Kosovo. Sie will in Wien weiterstudieren, eine gute Ausbildung im Ausland bekommen, internationale Erfahrungen in Krankenhäusern sammeln – um dann zurückzukommen und ihrem Volk zu helfen. Vier Jahre hat Ilirjana eine internationale Schule in Wien besucht und dort Abitur gemacht. „Als ich nach Wien kam, fand ich es dort schrecklich langweilig, weil die Menschen sich dort nicht bedroht fühlten. Später hat mir so ein Leben gefallen.“

Vor zwei Wochen ist sie aus Wien nach Priština gekommen. Am Morgen nach ihrer Rückkehr sah sie aus dem Fenster, wie Panzer und Mannschaftswagen zu einem nahe gelegenen Dorf fuhren. Aus Angst, der Krieg habe begonnen, rief sie im Büro der „Demokratischen Liga des Kosovo“ (LDK) an, der Partei, die bei den illegalen Parlamentswahlen 80 Prozent der Stimmen bekommen hatte, um die Truppenbewegungen zu melden. „Die wußten schon davon, es war nur ein Mannöver. Doch mir ist klargeworden, daß ich mich hier nicht heraushalten kann.“ Jetzt arbeitet Ilirjana, die Politik haßt, für die LDK und übersetzt an diesem Tag zum ersten Mal ein Interview mit dem albanischen Untergrundpräsidenten des Kosovo, Ibrahim Rugova.

Präsident Rugova residiert in einem fünfeckigen Bungalow, nicht größer als 80 Quadratmeter, gleich neben dem maroden Fußballstadion Prištinas. Vor dem Eingang steht der Wagen des Präsidenten, ein schwarzer Opel-Vectra mit dunkel getönten Fensterscheiben. An der Tür empfangen kräftige Männer in blauen Anzügen die Besucher. „Willkommen in der einzigen freien Zone im Kosovo“, werden die Gäste begrüßt. Im „Präsidentenpalast“ verbirgt sich ein perfekt organisiertes Pressezentrum. Der Bungalow wurde im letzten Jahr für zwei Monate von den Serben geschlossen. „Wahrscheinlich haben sie überall Wanzen installiert, und sie hören jedes Wort, das hier gesprochen wird.“

Dem Präsidenten ist es verboten, das gewählte Parlament zu versammeln. Als der Stern mit einem serbischen Fotografen aus Belgrad anreiste, um ein Bild mit Rugova in der Hauptstraße zu inszenieren, verhinderte die Miliz die Aufnahme. Rugova wird in allen Interviews als Vertreter des gewaltfreien Widerstands zitiert. Er meint, die Serben wären froh, wenn die Albaner die Gewalt erwidern. „Aber in wenigen Stunden wäre alles vorbei. Die serbische Armee hat moderne Waffen. Sie müssen nur auf einen Knopf drücken, um uns zu töten.“ Rugova ist sicher: Die jahrelange Normalität der Willkür und des Unrechts im Kosovo wirke wie ein bösartiges Krebsgeschwür, dessen Metastasen sich in ganz Europa ausbreiten werden.

* Namen geändert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen