piwik no script img

Lehrreiche Leichenschau

GUS, NUS oder Ex-UdSSR? Der Schweizer Reporter Christoph Neidhart war da  ■ Von Donata Riedel

Die Sowjetunion ist tot. Nur in den Köpfen derjenigen, die sie totrüsten wollten, ehe sie von selbst zusammenbrach, lebt sie weiter. Wie sonst wäre es zu verstehen, wie sehr wir Westler uns bemühen, dieses unbekannte Gebiet, auf dem es heute fünfzehn statt einen Staat gibt, einheitlich zu benennen?

Schön kurz ist die Ex-UdSSR; nur riecht sie arg nach Leichnam. GUS – Gemeinschaft Unabhängiger Staaten? Als dieses Kürzel noch beliebt war, gehörten lange nicht alle Staaten zu dieser Gemeinschaft. Also änderte es die EG-Kommission ganz offiziell und genau zu dem Zeitpunkt, als alle einstigen Sowjetrepubliken außer den drei baltischen Staaten in der GUS angekommen waren, in Newly Independent States, Neuerdings Unabhängige Staaten (NUS). Denn neu in ihrer Staatlichkeit sind die Republiken ja nicht.

Brüssels Eurokraten sind stolz auf ihr präzises Sprachungetüm, macht es sie doch vollständig unabhängig von allen politischen Eventualitäten. Selbst die Litauer, Letten und Esten, die nie in der GUS waren, können nun wieder mitgemeint werden, als Erweiterungsgebiet Rußlands sozusagen – ein überaus nützlicher Hinweis aus Brüssel für alle Schirinowskis Rußlands.

Gegen die arrogante Gleichgültigkeit den kolonisierten Völkern des roten Imperiums gegenüber gibt es nun ein empfehlenswertes Buch, das erstmals alle ehemaligen Sowjetrepubliken „Nach dem Kollaps“, so der Titel, vorstellt. Christoph Neidhart, Moskau-Korrespondent der Zürcher Weltwoche, hat in den vergangenen drei Jahren alle diese Länder besucht. Die 15 Reise-Essays sind gleichzeitig eine Leichenschau des letzten großen Kolonialreiches, dessen Erbe allen Republiken ihren Neuanfang in Unabhängigkeit politisch wie wirtschaftlich erschwert.

Daß Befreiungskämpfe offenbar nationale Symbolik brauchen, hat die Emanzipationsbewegungen der sowjetischen Minderheiten vor allem in Deutschland diskreditiert. „Es bedarf einer gehörigen Ignoranz, die um Selbsterhaltung und Demokratie kämpfenden Nationalbewegungen gleichzusetzen mit einem rassistischen Nationalismus, wie er beispielsweise in Deutschland grassiert“, schreibt der Schweizer Neidhart im Schlußkapitel. Denn die postsowjetischen Nationalbewegungen gehen nicht von der Überlegenheit der eigenen Nation aus.

„Die Esten haben bis heute Angst, als Volk ausgelöscht zu werden. Und nicht von ungefähr: Stalin hat ihre kleinen Brudervölker, die Liven, Wepsen, Woten, Ischoren ausgemerzt; das kleine estnische Volk verlor im Zweiten Weltkrieg durch Kriegstod, Emigration und vor allem Deportation gegen zwanzig Prozent seiner Bevölkerung.“ Anschließend versetzte die sowjetische Siedlungspolitik die Esten in ihren Städten in die Minderheit. Die Zugereisten, mehrheitlich Wanderarbeiter, die oft nach wenigen Jahren weiterzogen, bekamen sofort Wohnungen, während die Esten jahrelang warten mußten.

Warum aber ist uns der Befreiungskampf der Kurden, der Palästinenser oder der Indianer Mexikos so sehr viel sympathischer als die „singende Revolution“ der Esten, die 1988 bei einem Rockkonzert begann? Möglicherweise liegt es an dem „baltischen Paradox“ (Neidhart), daß die Kolonialmacht sich nicht in einer zugewanderten Oberschicht verkörperte, sondern durch ein überwiegend russisches entwurzeltes Industrieproletariat repräsentiert wurde – Menschen, die sich nun nirgends zu Hause fühlen und plötzlich estnisch (eine finno-ugrische Sprache, die mit dem Russischen nicht verwandt ist) lernen müssen, wenn sie eingebürgert werden wollen. Schutz und Sicherheit erhoffen sich diese Russen aus Moskau, wo wiederum die Nationalisten „unsere Leute im nahen Ausland“ als Argument für ihre Expansionsgelüste vorschieben können.

Die heute reale Diskriminierung der Russen außerhalb Rußlands führt Neidhart auf die sogenannten Interfronten zurück, jene zu Gorbatschows Zeiten aus dem Kreml organisierten Gegengruppen, die in der nationalen Opposition der Satellitenrepubliken Zwietracht säen sollten, um eine Zersplitterung und Radikalisierung der Bewegungen zu erreichen.

Heute, wo die neuen Staaten „am Anfang angekommen sind“, prägt zwar noch überall sowjetische Eintönigkeit die Städte und Dörfer mit ihren immer gleichen Leninstraßen und Puschkinplätzen.Doch die unterschiedlichen Kulturen schimmern bereits wieder durch den roten Firnis, der nicht überall gleich dick war. Der Reporter Neidhart führt seine Leser in die Berge Kirgistans, wo viele Menschen nach wie vor als Nomaden in ihren Jurten leben – obwohl es offiziell in der Sowjetunion seit den 30er Jahren keine Nomaden mehr gab. Die ihnen zugewiesenen Wohnungen nutzen viele nur in den kältesten Wintermonaten, ansonsten dienen sie als Lagerschuppen, während ihre Bewohner mit den Herden umherziehen. Mit Tieren, die dem Kolchos gehören.

Der 26jährige Schafhirte Schetschibek „möchte nicht anders leben als in der Jurte, niemals. Für die alten Leute sei es natürlich bequemer in einem Haus. Aber daheim sei er in der Jurte. Es roch etwas ranzig, und mir schien die kleine Behausung ziemlich eng. Aber das Hirtenleben findet ja nicht in der Jurte statt, sondern an der schier unvorstellbar sauberen Luft, in der Sonne, auf dem Pferderücken – draußen. Nur die Frauen bleiben meistens im Zelt.“

Die 15 Reportagen verbinden Analyse mit Anschaulichkeit, sie informieren gründlich über Geschichte, Politik und Wirtschaft und sind gleichzeitig immer den Menschen nah, vermeiden Idealisierung und Verdammung gleichermaßen. Über die Islamisierung in den südlichen der ehemaligen Sowjetrepubliken fragt Neidhart vor allem die Frauen, sofern sie nicht in Zelt oder Wohnung bleiben müssen.

Im Teehaus im tadschikischen Duschanbe arbeitet seit 25 Jahren Sonetschka, deren Vater Afghane und deren Mutter Tatarin war: „Ob ich an Allah glaube? Ja, gewiß. Aber ich muß doch trotzdem arbeiten. Ich bete vor dem Essen. Und abends. Aber arbeiten muß ich. Dafür fürchten sich die jungen Frauen am meisten, daß sie nicht mehr arbeiten dürfen. Vor allem die aus der Intelligenz. Und daß sie einen Schleier tragen müßten. Aber ich habe ja nur Söhne. Zum Glück.“

Die Sowjetunion ist tot. Nicht überall waren die Menschen darauf vorbereitet, am wenigsten wohl in Belarus (Weißrußland). Mehr als in jeder anderen Republik haben „viele Menschen ihre eigene Nationalität zugunsten der artifiziellen Sowjetnation vergessen“, schreibt Neidhart und schildert eine Diskussion zwischen drei alten Frauen in einer katholischen Kirche, die sich unsicher sind, ob sie nun Polinnen sind, denn: „Wer katholisch ist, ist Pole“, oder doch Weißrussinnen, weil sie in Belarus leben. Wobei sie es gut finden, daß sie in den Schulen wieder Weißrussisch sprechen – „für die, die das wollen. Aber daß man jetzt Weißrussisch reden muß, finde ich auch wieder falsch.“

Christoph Neidhart: „Nach dem Kollaps. Die ehemaligen Sowjetrepubliken“. Reportagen. Anhang mit Daten und Zahlen, Diogenes Verlag, 288 Seiten, 32 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen