Anatomie einer Warteschlange

■ Thalia-Nachtfoyer: Vladimir Sorokins „Die Schlange“

In irgendeiner russischen Stadt stehen zwei Frauen und drei Männer Schlange vor einem Geschäft. Es wird Nacht, dann graut der Morgen, noch immer stehen sie da und den Zuschauer schmerzen die Füße, so nachhaltig stehen sie. Vom Zufall hautnah aufgereiht, werden sie zum Resonanzkörper einer absichtslosen vox populi, die das Wort ergreift und sich mal diesem, mal jener in den Mund legt. Sie spricht ein seltsam nomadisches, einsilbiges Idiom, reich an Pausen, patriotisch und heimatlos zugleich. Die Fünf (Sona Cervena, Oscar Ortega Sanchez, Jan Moritz Steffen, Stefan Lohse und Oana Solomonescu) warten auf ein Gut, von dem man nur erfährt, daß es vielleicht gefüttert ist, möglicherweise poliert, hoffentlich nicht zerknautscht, auf jeden Fall rationiert. Irgendeine Westware, amerikanisch, schwedisch, weder noch?

Die Schlange muß immer wieder begradigt werden, da sie sich naturgemäß kringelt (um vorzuschnellen und zuzubeißen), zusammenrollt um zu schlummern oder sich krümmt und biegt, um wenigstens den eigenen peitschenden Schwanz zu faßen zu kriegen. Eine Lautsprecherstimme weiß diese subversive Peristaltik jedesmal rechtzeitig zu unterbinden, mahnt zur Ordnung, verteilt Nummern, defiliert. Die Schlange wächst und wächst. Es gibt kein Vorwärtskommen, nur Hin und Her und Auf und Ab. Nur ganz vorne geschehen Änderungen: Privilegierte aller Art (Georgier! Funktionäre! Asiaten!) bilden abwechslungsweise den Kopf dieses Reptils, das monatelang ohne zu Fressen überleben kann.

Vladimir Sorokins leichtfüßige Parabel der stehenden Schlange in der Regie von Ralf Siebelt stieß am Freitagabend im Foyer des Thalia-Theaters auf Begeisterung; zu recht: Denn das frühe Prosastück des russischen Untergrundliteraten inszeniert in der anmutigen Exaktheit und Statik eines Kasperle-Theaters, entwickelte einen derartigen Sog an Abgründigkeit, wie man es sonst nur von den Einaktern Ionescos kennt.

Daniel Rau