Den männlichen Ernährer mitkaufen?

■ HWP-Symposium: Neue Armut „normales Risiko“ unserer Gesellschaft Von Paula Roosen

Auch Bevölkerungsteile, die bisher in relativer sozialer Sicherheit gelebt haben, sind arm dran. Diese These ist ein Ergebnis des der „Neuen Armut“ gewidmeten Symposiums der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, zu dem sich am Wochenende rund 300 hauptsächlich Hamburger WissenschaftlerInnen zusammengefunden hatten. Die Verarmung trifft Alleinstehende und vollständige Familien, zunehmend betroffen sind Menschen mit Facharbeiter-Ausbildung. Die Volkswirtschaftlerin Anita Pfaff sieht die Ursachen unter anderem im Abbau von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe. Ältere Beschäftigte werden gezwungen, früh aus dem Erwerbsleben auszuscheiden und ihre Ersparnisse aufzubrauchen.

Unter der offiziellen Armutsschwelle leben in wachsendem Maße auch Kinder und Jugendliche. Knapp ein Viertel der unter Siebenjährigen wird beim Sozialamt geführt. Ihr Anteil ist in den letzten zehn Jahren um 15 Prozent gestiegen, obwohl die Geburtenrate stagniert.

Alleinerziehende Mütter müssen den Kindern klarmachen, daß es hinten und vorne nicht reicht. „Fleisch und frisches Gemüse können wir uns nicht leisten“, wurde eine Betroffene auf der Tagung zitiert. „Am Anfang des Monats kaufen wir neue Konserven ein. Gegen Ende versuche ich, mir irgendwo Geld zu leihen.“ Die Frauen empfinden ihre Rolle als Bittstellerin bei den Ämtern als demütigend. Alleinerziehenden Männern wird oft mehr Anerkennung entgegengebracht. Jedes neunte Kind wächst heute in einer neudeutsch Ein-Eltern-Familie genannten Einheit auf. Rund zwanzig Prozent der Alleinerziehenden sind Männer.

Die Bremer Soziologin Ilona Ostner kam bei ihren Untersuchungen zu einem Ergebnis, das sie selbst als zynisch empfindet. Die bundesdeutsche Familienpolitik sei darauf ausgerichtet, Frauen in die Ehe zu treiben. Wer sich für Nachwuchs entscheide, müsse quasi „den männlichen Ernährer“ gleich mitkaufen, um nicht in Geldnot oder staatliche Abhängigkeit zu geraten. Nach den Beobachtungen Ostners sind Frauen besonders nach einer Scheidung potentiell abstiegsgefährdet. Geschiedene, die vor fünfzehn Jahren ihren Beruf an den Nagel gehängt haben, haben es am schwersten, so Ostner.

Unter den Einkommensschwachen gibt es bestimmte Gruppen, die nicht einmal das Minimum an Sozialhilfe in Anspruch nehmen, das ihnen zusteht. Ihre Zahl wird auf 30 Prozent aller Sozialhilfeberechtigten geschätzt. Neben den „verschämten Alten“ sind dies hauptsächlich Familien mit hohen Mietkosten, die aus Unwissenheit verzichten. Theoretisch könnten Finanzämter und Rentenversicherungsträger die Verarmten automatisch auf ihren Anspruch aufmerksam machen.

Nach Meinung des Bremer Wissenschaftlers Lutz Leisering greift die Bindung des Begriffs der Zweidrittelgesellschaft an Arbeitslosigkeit und irreversible Abstiegskarrieren zu kurz. Der hohe Anteil von vorübergehend Bedürftigen verweise darauf, daß Armut längst als zeitweilige Lage oder ständige latente Bedrohung in höhere Schichten hineinreicht. Armut sei daher als ein „normales Risiko“ in unserer Gesellschaft anzusehen.