: Annäherungen für einen Wechsel ohne Wandel
■ Industriemanager zeigen sich von der wirtschaftspolitischen „Tatkraft“ der SPD-Spitze zunehmend angetan und sehen einer SPD-geführten Regierung mit Gelassenheit entgegen
Vielleicht war es ein Segen, daß die Industriebosse auf dem Parteitag fehlten. Als die SPD Mitte November 1993 in Wiesbaden ihr neues Wirtschaftsprogramm zusammenzimmerte, hatte die (geladene) Creme der deutschen Wirtschaft abgesagt; die Herren bereisten lieber China, zusammen mit Kanzler Kohl. Einige, wie BDI- Chef Tyll Necker, ließen sich wenigstens öffentlich entschuldigen, für die meisten aber war schon allein der Gedanke an einen Saal mit sozialdemokratischen Delegierten eine Art Alptraum.
Zumindest einigen Wirtschaftskapitänen aber sind nach der Kanzler-Reise offenbar Zweifel an der Weisheit ihrer Entscheidung gekommen. Vielleicht hatten sie ja im Flugzeug doch mit dem falschen Pfälzer angestoßen. Dazu mögen erstens die Kommentare in der konservativen Presse hierzulande beigetragen haben, in denen von einem wirtschaftspolitischen Realismus-Schub der SPD auf ihrem Parteitag die Rede war. Die Partei habe „Abschied von Illusionen“ genommen, hieß es da. Zum zweiten zeigten die Meinungsumfragen, das Magdeburger Selbstbedienungsdesaster des Ministerpräsidenten Münch und schließlich die Wahlen in Brandenburg, daß die Zeit des Vereinigungskanzlers abgelaufen sein könnte. Und daß die Sozis deutlich im Kommen sind. Drittens schließlich waren einige der Wirtschaftskapitäne nach der Reise aber auch nachhaltig vom Kanzler genervt. Der Auftragssegen, der sie motiviert hatte, mitzufliegen, war nicht eingetroffen. Ratschläge zur Bewältigung der heimischen Wirtschaftskrise seien am Kanzler abgeprallt, hieß es. Der Historiker Kohl zog sein Besuchsprogramm durch und degradierte die statusbewußten Konzernherren zu Statisten.
Jedenfalls finden seit November in aller Regelmäßigkeit Gespräche zwischen der Scharping-Crew und Wirtschaftskapitänen statt, während derer das Verpaßte nachgeholt wird. Manche, wie Siemens-Chef Heinrich von Pierer, schauten einfach mal in der SPD-Parteizentrale in Bonn vorbei. Andere, wie Eberhard von Koerber, Chef des Technologiekonzerns ABB, bescheinigten der Partei via Spiegel Kompetenzgewinn: „Bestimmte Passagen im Leitantrag der SPD auf dem Bundesparteitag im November, auch manche Äußerungen von Herrn Scharping, von Herrn Lafontaine oder von Herrn Rappe, in denen der Arbeitnehmerflügel der CDU rechts überholt wird, gehen in die richtige Richtung.“
Meist liefen die Kontakte allerdings diskreter. Wie etwa die Diskussion Oskar Lafontaines mit Daimler-Boss Edzard Reuter und einem Thyssen-Chefmanager in dessen Privathaus – organisiert von Ex-IG-Metallchef Franz Steinkühler, wie der Spiegel nicht ohne Süffisanz zu berichten wußte.
Offizielle Verlautbarungen zu solchen Gesprächen gibt es aus der SPD-Zentrale verständlicherweise nicht. Von den Hunderten Pressemitteilungen des Parteivorstandes aus den letzten drei Monaten widmete sich gerademal eine einem solchen Tête-à-tête: Am vergangenen Donnerstag, rechtzeitig vor der heißen Phase der aktuellen Tarifrunde, parlierte die SPD-Spitze mit dem Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Hans-Joachim Gottschol, und seinem Geschäftsführer Dieter Kirchner. Das Treffen war vorzeitig bekanntgeworden, eine Meldung also kaum zu vermeiden. Am SPD-Tisch saßen neben Scharping und Lafontaine der baden-württembergische Wirtschaftsminister Spöri und SPD-Geschäftsführer Verheugen. SPD und Gesamtmetall, so die Pressemitteilung, seien sich einig gewesen, daß ein Arbeitskampf unbedingt vermieden werden müsse. Daß der Abschied von der alten Zeit schwerfällt, zeigte sich an den ersten Worten der Verlautbarung: „Nach Gesprächen mit dem Vorstand der Industriegewerkschaft Metall...“
Wohin geht die Reise? Scharping und Lafontaine haben ohne allzuviel Skrupel in den vergangenen Monaten Bedenken der Parteigenossen gegen Vorhaben der Wirtschaftsbosse aus dem Weg geräumt. Gegen den Widerstand der Parteigenossen Eichel und Voscherau peitschten sie die Bahnreform durch den Bundesrat. Darüber hinaus betrieb der SPD-Vorsitzende in enger Kooperation mit dem rheinland-pfälzischen Chemiemulti BASF die Novelle des Gentechnikgesetzes – gegen die rot-grünen Landesregierungen in Hessen und Niedersachsen.
Derartige Tatkraft läßt die Manager einer möglichen SPD-geführten Regierung nach den Wahlen vom Herbst weniger ängstlich entgegensehen. Sie beschwört bei nachdenklichen Genossen aber auch die Frage herauf, wozu man denn überhaupt einen Wahlsieg erringen soll. Wozu braucht man mit einem solchen Vorsitzenden überhaupt noch Christdemokraten? Bringt der Wechsel dann noch Wandel?
Das ist Scharping vorläufig egal. Entscheidender Punkt für ihn ist, daß die Wirtschaftsbosse Kohl nichts mehr zutrauen. Nach den Bossen, so sein Kalkül, kommen die Wähler dann von allein. Zwar reden nicht alle so deutlich wie Heinz Kriwet, der Vorstandsvorsitzende von Thyssen: „Innerhalb der Union sind Führungsschwächen gerade im wirtschaftspolitischen Bereich seit einiger Zeit unverkennbar. Es gibt keine klare wirtschaftspolitische Konzeption“, vertraute er dem Handelsblatt an. Aber Kriwet steht nicht allein. Nur noch 21 Prozent der befragten Manager sind mit Kohls Wirtschaftspolitik zufrieden. Das berichtet zumindest das Meinungsforschungsinstitut Allensbach.
Scharping ist gelernter Politologe, er weiß um die Bedeutung solcher Stimmungen. Stimmungen sind in Wahljahren oft wichtiger als Inhalte. Oder wie Parteienforscher Klaus von Beyme 1984 schrieb: „Selbst wenn Zyniker ,errechnen‘ könnten, daß Parteien im Leistungsergebnis kaum einen Unterschied machten, müßte die gegenteilige Annahme als ,Lebenslüge‘ der Demokratie weiter verteidigt werden.“ Hermann-Josef Tenhagen
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