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Ich Pulverfaß

■ (K)ein Schülertheater: Schulzentrum Delmestraße spielt „Der Tod und das Mädchen“ von Ariel Dorfman

In der ersten Szene sieht man in der Hand von Paulina einen Augenblick lang eine Pistole. Gerade lang genug, um die latente Bedrohung dieser Welt dort auf der Bühne nicht zu vergessen. Dann folgen Szenen einer Ehe, Eifersüchteleien, boshaft begrüßte Mißverständnisse, Geschrei und Umarmung. Doch plötzlich tut sich ein Abgrund auf, und der Zuschauer beginnt zu ahnen, daß es hier um eine ganz ganz schlimme Geschichte geht.

Schülertheater am Schulzentrum Neustadt. Der Tod und das Mädchen von Ariel Dorfman. Ein Erfolgsstück weltweit, ein Bestseller, Polanski plant, es zu verfilmen. Im letzten Sommer fingen Jana Mitticzk (18), Christopher Klemme (18) und Ex-Schüler Martin Buddensieck (22) mit der Arbeit an diesem Stück an. Ihr Regisseur: Wolfgang Kuhlmann, seit 14 Jahren Schulregisseur und seinerseits Mitglied des „Theaters der Versammlung“ an der Bremer Uni. Morgen abend hat das Stück Premiere in der Delmestraße.

Aber ist das wirklich Schülertheater, was eine „Theater-AG“ da macht? Einiges spricht dagegen. Für die Schüler ist es kein Kurs. Es gibt keine Noten. Für die Schüler handelt es sich eher um ein Anliegen. Geprobt wurde engagiert und wie besessen, um Weihnachten rum über sechs Stunden am Tag. Das Stück selbst ist am allerwenigsten ein Schultheaterstück: Der Tod und das Mädchen ist ein Stück um Folter und Vergewaltigung.

Chile oder irgendein anderes Land nach der Diktatur: Eine junge Demokratie, noch weitgehend kontrolliert vom allgegenwärtigen Militär, versucht sich in Vergangenheitsbewältigung. Gerardo Escobar ist Anwalt und Mitglied einer Kommission zur Aufklärung von Verbrechen der Diktatur. Seine Frau ist traumatisiert von Folter und Vergewaltigung, die 15 Jahre zurückliegen. Durch Zufall kommt ein Mann ins Haus, in dem sie ihren damaligen Peiniger zu erkennen meint. Sie beschließt, dem Mann, der bei den Folterungen Schuberts Der Tod und das Mädchen hörte, auf eigene Faust den Prozeß zu machen.

Probe, erste Szene: Gerardo, der Rechtsanwalt, ist ein eloquenter, aber von tiefen Selbstzweifeln angefressener Mensch, der sich immer wieder zusammenreißt, Anlauf nimmt, um sich sogleich in seinen zahllosen Widersprüchen zu verwickeln. Er hat Angst, daß Paulina „einen Rückfall“ hat. Sie ist ein einziger Rückfall. Mit kleinen Momenten der Sehnsucht nach Nähe und Wärme. Ein für die Spieler höchst anspruchsvolles emotionales Wechselbad – immer wieder unterbricht der Regisseur: „Sieh zu, daß Du einen Impuls bekommst: Plop, weg von ihr.“ Die größte Gefahr bei zuviel Gefühl ist die Gefühlssuppe. Kuhlmann besteht auf absoluter Präzision, genauester Choreografie. Er greift deutlich in seiner Arbeit auf Erfahrungen des „Theaters der Versammlung“ zurück, welches ein Theater der Ehrlichkeit und der Präzision ist.

„Ätzend! Nein, jetzt nicht unterbrechen!“ Die Spieler sind genervt, wenn gerade die heikle Umarmungsszene so rigide gestört wird. Sie haben kein Interesse, sich besonders professionell und routiniert zu geben. Ihr Spiel ist kein Spiel. Es ist Ernst. „Anfangs fragte ich mich, wie würde Paulina reagieren. Heute frage ich mich, wie reagiere ich als Paulina?“ sagt Jana, die nach der Probe zu Hause manchmal wie ein Pulverfaß war. Sie meint, es sei doch ein Spiel, „aber ein wichtiges“. Alle Akteure haben sich im letzten halben Jahr verändert, es gab echten Schmerz, Tränen. Es gab Recherchen draußen, wenn sie sich von einer Amnesty-International-Aktivistin von Folter berichten ließen. Und es gab Recherchen drinnen. „Der Kopf wurde aufgeknackt“, versucht Martin die Erfahrung ihrer heftigen Öffnung nach außen zu umschreiben. Was dann kam, war „Energie, eine faszinierende Energie“.

Die Energie, mit der die Akteure so diszipliniert umgehen können, wird das sein, was die Zuschauer einnehmen wird, auch wenn sie sich zwischendurch fragen werden, ob es recht ist, daß sich so junge Menschen mit einem solchen Text konfrontieren. Die Zuschauer werden feststellen, daß es nicht nur recht, sondern auch angemessen und großartig ist, wenn Abiturienten wenige Wochen vor der Abschlußprüfung mit einem derart „wichtigen Spiel“ herauskommen.

Burkhard Straßmann

„Der Tod und das Mächen“ von Ariel Dorfman, Premiere 3.2., Aula Schulzentrum Delmestraße. Weitere Aufführungen: 5./6.2. Kulturwerkstatt Westend (am Waller Friedhof, auf Einladung von Amnesty International), 8.2. Aula SZ Delmestraße, 18.2. Haus im Park, ZKH Ost. Beginn jeweils 20 Uhr.

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