Krähen im weißen Kittel

Patienten wehren sich erfolgreich gegen Kunstfehler / Versicherungen erhöhen Tarife für Gynäkologen und andere Risiko-Ärzte  ■ Von Detlef Schmalenberg

Vorsichtig führt Fozli Yulut den Löffel mit Möhrenbrei an den Mund seines vierjährigen Sohnes Yasin. Als der Kleine die Lippen leicht öffnet, schiebt sein Vater das Essen behutsam nach. Yasin ist schwerstbehindert. Er kann nicht laufen, nicht sprechen und nicht alleine essen – und wird es wohl auch niemals können.

Den Grund für diesen „Zustand“ haben ärztliche Gutachter in einer Fehldiagnose gefunden. Kurz vor der Geburt im Kölner St.- Vinzenz-Hospital wurde der Mutter ein „nicht indiziertes“ Medikament – ein falsches also – verabreicht, wodurch sie einen Schock erlitt und ins Koma fiel. Die dreißigjährige Hatice Yulut konnte zwar gerettet werden, ihr Sohn jedoch war kein „normales“ Kind mehr. Er kam behindert zur Welt.

Die behandelnden Ärzte hätten „grob fahrlässig“ gehandelt, schrieb ein vom Rechtsanwalt der Geschädigten beauftragter Sachverständiger. Ein weiterer meinte, daß nach einer „schwammigen Diagnose“ die Therapie mit den verheerenden Folgen frei nach dem Motto „Laß uns mal probieren!“ angesetzt wurde. Die Versicherung, die für die Schäden aufkommen sollte, beauftragte eigene Gutachter. Die konnten kein Verschulden der Klinikärzte erkennen. Vor Gericht wollen die Eltern von Yasin nun um die Zukunft ihres Kindes kämpfen: „Wir müssen sicher sein, daß unser Sohn auch versorgt ist, wenn uns einmal etwas passieren sollte.“ Die Verhandlung beginnt im Juli.

Auf keinen Fall soll der Vierjährige, der am Montag Geburtstag hatte, in ein Heim abgeschoben werden. „Egal was passiert, er bleibt bei uns. Wir lieben unser Kind, so wie es ist“, sagt Fazli Yulut. Und seine Frau Hatice ergänzt: „Auch wenn er uns rund um die Uhr auf Trab hält: Der Junge gehört hierhin, er braucht uns.“

Wie so oft wird wohl auch in diesem Fall die Krankheit, in der alle wesentlichen Details der Behandlung protokolliert sein müssen, zum wichtigsten Beweismittel. Sachverständige werden im Prozeß darüber diskutieren, ob alle notwendigen Tests und Untersuchungen durchgeführt wurden. Eine gütliche Einigung scheint nicht in Sicht. Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis die Sache vor Gericht entschieden wird. Prozesse, die sich über viele Jahre hinziehen, sind nichts Ungewöhnliches: Wer als Patient einen Kunstfehlerprozeß durchstehen will, braucht neben Geld und Gutachtern auch Geduld – manchmal dauert die nervenaufreibende Feilscherei um Schadensersatz sogar länger als ein Jahrzehnt.

Ein Drittel aller Fälle sind glatte Kunstfehler

Immer mehr Bundesbürger fordern Entschädigung für Ärztepfusch und Schlamperei: dreißigtausend, so schätzt der Verband der Haftpflichtversicherer (HUK), sind es pro Jahr. Etwa die Hälfte der Ansprüche werden anerkannt, 80 Prozent der Anerkennungen werden außergerichtlich erfochten. Allerdings schätzt der „Allgemeine Patienten-Verband“ die Kunstfehlerrate auf etwa hunderttausend Fälle pro Jahr, verursacht durch Fahrlässigkeit, Schlamperei, mangelnde Qualifikation und Überlastung. Etwa 25.000 Menschen würden die Fehler nicht überleben. Die Ärztekammer Nordrhein kritisiert die Zahlen; sie seien „frei geschätzt und durch nichts belegt“. Lediglich 10.000 bis 20.000 Kunstfehler müßten jährlich beklagt werden.

Bei der für Ärztefehler zuständigen Kammer am Kölner Landgericht zum Beispiel wurden 1992 etwa 150 Fälle verhandelt. Bei der Gutachterkommission der Ärztekammer Nordrhein, zuständig für den Großraum Köln und Düsseldorf, wurden im vergangenen Jahr 1.082 Überprüfungsanträge gestellt, 816 Anträge konnten bereits erledigt werden. In rund einem Drittel der Fälle (283) wurden ärztliche Fehler festgestellt.

Zahlreiche Geschädigte erfahren jedoch nie, daß sie Opfer einer Behandlungspanne geworden sind. „Gerade bei Neugeborenen kommt es oft vor, daß ein Schaden erst nach ein bis zwei Jahren oder noch später bemerkt wird“, sagt Karlis Sojat vom „Arbeitskreis Kunstfehler in der Geburtshilfe“ (AKG) in Dortmund, dem bundesweit 1.600 Eltern mit behinderten Kindern als Mitglieder angehören. Auffälligkeiten würden von Kinderärzten oft mit Bemerkungen wie „das wird schon noch, ihr Nachwuchs ist Spätentwickler“, kommentiert. Bis eine Behinderung dann bemerkt wird, vergeht kostbare Zeit zur Therapie, die später oft nicht mehr aufgeholt werden kann.

Häufig bemerken die Eltern erst nach Einsicht der Klinikprotokolle, daß im Kreißsaal etwas schiefgelaufen ist. Ist ein Kunstfehler wahrscheinlich, spricht der AKG bei der Krankenkasse des Geschädigten vor. Die soll dann ein Gutachten erstellen oder finanzieren. Überforderte Ärzte, zu viele unnötige Medikamente, unerkannte Gefahren sowie junge Mediziner, denen gelegentlich die Bereitschaft fehle, auf erfahrene Hebammen zu hören, macht Karlis Sojat für die Kunstfehler bei der Geburt verantwortlich. In Deutschland seien davon mehrere tausend Kinder pro Jahr betroffen.

Wurden die Geschädigten noch in den siebziger Jahren in der Regel mit einem Almosen abgespeist, gehen heute bei eklatanten Fehlern mehrere 100.000 Mark über den Tisch. Den bisher höchsten Schadensersatz, 2,5 Millionen Mark, erkämpfte der Münchner Wachmann Helmut Liewald für seine 16jährige Tochter Anita. Nach einer fehlerhaft durchgeführten Operation sitzt das Mädchen heute blind und taub im Rollstuhl. Auch dem 64jährigen Ulrich Freer hat sein Kölner Anwalt zu seinem Recht verholfen. Bei Freer, der heute gelähmt im Rollstuhl sitzt, hatten 1988 gleich mehrere Kölner Ärzte gepfuscht. Die Mediziner hatten übersehen, daß ein Furunkel Bakterien streute, die schließlich einige Wirbelkörper zerfraßen. Als die zusammenbrachen, wurde das Rückenmark zerquetscht. Meinecke erstritt eine hohe Abfindung und Rente. Und dies, obwohl er mit einer Strafanzeige bereits gescheitert war. „Strafanzeigen gegen Ärzte machen keinen Sinn“, weiß Meinecke ebenso wie zahlreiche seiner Kollegen. Von 1.000 Anzeigen führten gerade mal zwei zu einer rechtskräftigen Verurteilung.

Denn im Strafprozeß muß dem Arzt ein Fehler zweifelsfrei nachgewiesen werden. Ein Vergleich zwischen den Parteien – wie im Zivilverfahren – ist nicht möglich. Zudem entwickelten vom Gericht bestellte Gutachter allzu oft eine „Krähenmentalität, das heißt, sie verbünden sich mit ihren beklagten Kollegen, wollen ihnen kein Auge auskratzen“, ergänzt ein Medizinrechtler, der „nicht genannt werden will“.

Noch einmal angeklagt wurde ein Arzt, dem die Kölner Staatsanwaltschaft Mitte vergangenen Jahres einen „schweren ärztlichen Kunstfehler“ attestiert hatte. Ein 82jähriger Mann war blutverschmiert in seinem Bett aufgefunden worden, die Familie des Bewußtlosen rief den Hausarzt zu Hilfe. „Der Patient liegt im Sterben“, erklärte der Herbeigerufene nach einem kurzen Blick in die Pupillen des alten Mannes. Bevor er sich verabschiedete, fühlte er noch an der rechten Hand den Puls des Sterbenden. Als er, wie versprochen, ein paar Stunden später zurückkam, waren Leichenbestatter und Polizei schon da. Denn der 82jährige war keines natürlichen Todes gestorben, er hatte sich die Pulsadern der linken Hand aufgeschnitten. Ein von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes Gutachten ergab: Der Hausarzt habe es eindeutig an ärztlicher Sorgfaltspflicht fehlen lassen und eine falsche Diagnose gestellt.

Scharlatane fürchten keine Zivilklagen

Ob der Tod allerdings durch schnelle Hilfe hätte verhindert werden können, konnte der Sachverständige nicht bestätigen. Den Juristen waren damit die Hände gebunden. Denn ein ärztlicher Kunstfehler ist nur dann strafbar, wenn er nachweislich Folgen hat. Notgedrungen stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren Ende 1993 deshalb ein, der Arzt kam ohne Strafe davon.

Das stetig steigende Bewußtsein der Bevölkerung bei ärztlichen Kunstfehlern bekommen auch die Versicherungen zu spüren. Zunehmend werden in der Sparte „Ärztehaftpflicht“ riesige Verluste gemacht. „Häufiger als gelegentlich“ würden auslaufende Verträge nicht verlängert, weiß Ulrich Bockrath von der Colonia- Versicherung.

Insbesondere um Chirurgen, Orthopäden und Gynäkologen wird heute kaum noch geworben, bestätigen auch andere Versicherer. Die Jahresprämien für die „Risiko-Mediziner“ steigen ständig: Gynäkologen, wenn sie auch stationär im Krankenhaus arbeiten, zahlen mittlerweile 25.500 Mark, Orthopäden 16.500 Mark – ein niedergelassener Allgemeinarzt kommt mit 700 Mark aus.

Mit dem technischen Fortschritt wächst auch das Risiko für den Doktor und die Versicherung. Die Flut der Arzneimittel ist kaum noch zu überschauen. Modernste, auf High-Tech getrimmte Geräte bieten immer mehr Fehlerquellen. Früher unmöglich, operieren Fachleute heute an Herz, Leber, Niere oder Lunge.

In Krankenhäusern führt insbesondere die Überlastung von Pflegepersonal und Ärzten oft zur Katastrophe. „Der Karriere wegen“ habe sich noch nie ein Kollege über zu viele Patienten beim Chef beschwert, erzählt ein Kölner Klinikarzt. Er selbst habe in seiner Assistenzarztzeit, „so manches angeordnet und unterzeichnet, dessen mögliche Auswirkungen ich abends im Lehrbuch erst einmal nachgelesen habe“. Im April dieses Jahres etwa vergaßen Ärzte des Kölner Elisabeth-Krankenhauses bei einem Kaiserschnitt einen handtuchgroßen Lappen in der Bauchhöhle einer Schwangeren. Drei Tage lang blieb die Panne unbemerkt, lebte die dreiunddreißigjährige mit starken Schmerzen. Erst als der Ehemann drohte, seine Frau anderswo untersuchen zu lassen, öffneten Ärzte die Wunde.

Langzeitschäden jedoch verursachte diese Schlamperei, für die die Klinik Schmerzensgeld zahlte, vermutlich nicht. Doch gerade Fehler in der Geburtshilfe können, werden sie nachgewiesen, für die Versicherungen sehr teuer werden. Bei schweren Schäden werden häufig mehrere hunderttausend Mark Schadensersatz und Monatsrenten von bis zu 6.000 Mark gezahlt. Und wollen die Eltern ihre Kinder zu Hause behalten, kann die Betreuung durch Pfleger noch teurer werden.

Doch auch Erwachsene, die Opfer eines Kunstfehlers geworden sind, brauchen oft kostspielige und aufwendige Hilfe, wenn sie weiter in der eigenen Wohnung bleiben wollen. Die 57jährige Karin Klagemann hatte das dazu notwendige Geld nicht. Damit die Mutter von neun Kindern zu Hause bleiben konnte, mußte eine Tochter ihre Ausbildung unterbrechen, um sie zu pflegen und den Haushalt zu führen.

Denn seit fünf Jahren lebt Karin Klagemann mit starken Schmerzen. Ohne es zu bemerken, hatte ihr ein Arzt aus Dierdorf im Westerwald im April 1988 bei einer Unterleibsoperation einen Harnleiter beschädigt. Die starken Beschwerden nach dem Eingriff führte der Mediziner auf eine Fistel an der Blase zurück. Als seine Patientin sich schließlich nach zwei Monaten einem Urologen anvertraute, erkannte der sofort das wirkliche Problem. In der Mainzer Uniklinik wurde daraufhin ein künstlicher Ausgang für die linke Niere gelegt. Denn es war zu einem lebensbedrohenden Harnstau gekommen. „Die Ärzte haben uns gesagt, wenn wir ein paar Stunden später gekommen wären, hätte es schon zu spät sein können“, erinnert sich die Geschädigte.

Bis zum Juli vergangenen Jahres mußte sie mit dem Nierenkatheder in ihrem Rücken, einem fünf Millimeter dicken Plastikschlauch, leben. Kein Arzt wollte das Risiko einer neuen Operation eingehen. Schließlich fand sie einen Mediziner in Kassel, der den Schlauch entfernte und mit ihm auch die linke Niere, die nicht mehr funktionierte. Lächerliche 5.000 Mark bot die Versicherung des verantwortlichen Arztes. Nach langen Auseinandersetzungen setzte der Rechtsanwalt der 57jährigen bisher eine Entschädigung von fast 100.000 Mark durch.

Doch zu Ende ist die Geschichte damit noch lange nicht. Bei der letzten Operation konnte ein Stück des verstümmelten Harnleiters nicht entnommen werden. „Wenn ich Pech habe, muß ich noch einmal unters Messer“, weiß Karin Klagemann. Doch davor fürchtet sie sich nun auch nicht mehr, denn sie hat ein Ziel vor Augen: „Ich möchte endlich wieder ohne Schmerzen leben.“

Betroffene können sich an den AKG wenden: 0231/525872