Mit dem Elefanten auf Tigersafari

Auf den Spuren des Königstigers in den Ausläufern des indischen Vorhimalaya-Gebirges  ■ Von Plutonia Plarre

Mit angelegten Ohren bahnt sich der Elefant Ganga Kali einen Weg durch das hohe Schilfgras. Von den Halmen tropft der Tau. Nebelschleier ziehen vom Fluß herauf und lösen sich über dem Dschungel auf. Es ist Winter in den Ausläufern des Vorhimalaya-Gebirges und in den frühen Morgenstunden bitterkalt. Seit 2 Wochen reiten wir nun schon auf den Rücken von Elefanten durch Indiens Naturschutzgebiete. Mehrere Stunden täglich, bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang. Wir haben ein großes Ziel: einen der letzten freilebenden Königstiger durch die Wildnis streifen zu sehen.

Niemand weiß genau, wie viele es von den majestätischen Raubkatzen mit dem gestreiften Fell und den gelben Augen auf der Welt noch gibt. Der World Wide Fund for Nature (WWF) schätzt 4.000 bis 7.000 Tiere, die Hälfte davon lebt in Indien. Vor 100 Jahren, als das Land von der Größe eines Subkontinents noch von riesigen Wäldern überzogen war, sollen es noch 40.000 Tiere gewesen sein. Doch die Maharadschas und englischen Kolonialherren knallten die Tiere bei ihren Großwildjagden so erbarmungslos ab, daß die Bestände fast ausgerottet wurden. 1970 wurde die Jagd auf den Tiger in Indien endlich verboten. Mit Unterstützung internationaler Naturschutzorganisationen wie WWF und IUCN stampfte die Regierung der damaligen Ministerpräsidentin Indira Gandhi ein großangelegtes Rettungsprogramm aus dem Boden: das Projekt Tiger.

Ausgewählte Gebiete mit einem den Lebensanforderungen des Tigers entsprechenden Ökosystem wurden zu Schutzgebieten erklärt. Die armen Landbewohner leisteten zum Teil heftigen Widerstand, denn sie mußten ihre Dörfer in den Kernzonen der Reservate verlassen. Nur in den Randzonen ist das Brennholz sammeln und Viehfutter schneiden noch erlaubt. Inzwischen gibt es neunzehn über das ganze Land verteilte Tigerschutzgebiete; mit einer Gesamtfläche von 25.000 Quadratkilometern sind sie noch noch nicht einmal so groß wie das Bundesland Brandenburg.

In den ersten Jahren schien es so, als würden sich die Tigerbestände erholen. Doch seit ein paar Wochen schlägt der WWF Alarm: Immer mehr Wilderer gehen in den Reservaten heimlich auf Tigerjagd. Nicht nur weil sie den Tieren ans Fell wollen – auch die Knochen sind auf den internationalen Märkten eine heißbegehrte Ware. Im Fernen Osten, besonders in China, werden die Gebeine der Raubkatze zu einem Pulver zerrieben, das als Wunderheilmittel gegen Rheuma und Epilepsie gilt. In Taiwan gehen 100 Gramm bisweilen für stolze 500 Dollar über den Ladentisch, ermittelte der WWF.

Die Zukunft für den Tiger sieht schlecht aus. Bereits jetzt hat Indien über 800 Millionen Einwohner. Mit einem Geburtenwachstum von zwei Prozent wird es am Ende des Jahrhunderts das bevölkerungsreichste Land der Welt sein. Der Waldbestand macht aber nur noch knapp acht Prozent der Landesfläche aus und geht immer weiter zurück – auch wenn die regionalen Forest-Departments dies in ihren geschönten Waldstatistiken leugnen. „Unter derart widrigen Umständen hat der Tiger kaum noch Überlebenschancen“, stellt der Forscher Valmik Thapar in seinem Buch über die indischen Großkatzen resigniert fest. Denn Tigerbestände können sich nur dann vermehren, wenn die naturbelassenen Waldgebiete – ihre Heimat – vergrößert werden und Verbindungen zum Überwechseln in andere Reservate haben.

Die kühle Luft des Dschungels ist vom Duft exotischer Blüten erfüllt. In den Wipfeln der Urwaldriesen kreischen grüne Papageien. In warme Decken eingemummelt, sitzen wir auf Ganga Kali und werden durch die Natur geschaukelt. Unvermittelt hält der Dickhäuter an. Morgentoilette. Es poltert heftig. Als er sich wieder in Bewegung setzt, bleiben auf dem Trampelpfad vier kindskopfgroße Elefantenäpfel zurück. Wo es langgeht, bestimmt der Mahout Idrees. Der 42jährige zierliche Mann sitzt auf dem Hals des Elefanten und dirigiert diesen mittels Druck seiner hinter den ausladenden Ohren herabhängenden nackten Füße. Während Ganga Kali mühelos einen steilen Hang erklimmt, kann er es nicht lassen, von den Blättern rings um ihn herum zu naschen. Eine Sorte hat es ihm besonders angetan. Bevor ihn der Mahout noch hindern kann, packt er mit seinem Rüssel den armdicken Stamm des großblättrigen Baumes und knickt ihn wie ein Streichholz um. Unterwegs zerkleinert er den Stumpf bißgerecht und verzehrt ihn genüßlich.

Über den sumpfigen Boden zieht sich eine Katzenspur. Der Mahout Idrees hat sie entdeckt. Der spitz zulaufende Ballen zeigt ihm an, daß es die frische Fährte eines Tigerweibchens ist. Idrees dirigiert Ganga Kali tiefer in das hohe Gras. Der Dickhäuter wird unruhig. Elefanten können zwar nicht gut sehen, haben aber einen um so besseren Geruchssinn. Wenn sie einen Tiger in der Nähe riechen, rudern sie mit ihrem Rüssel wild in der Luft herum. Tiger und Elefanten haben voreinander großen Respekt. Die Raubkatzen wagen es nicht, die Dickhäuter anzugreifen, aber sie ergreifen vor ihnen auch nicht sofort die Flucht. Darum werden Elefanten in indischen Nationalparks so häufig als wandelnde Beobachtungstürme an Touristen vermietet.

Es gehört Zeit, Glück und Geduld dazu, um einen Tiger in freier Wildbahn zu Gesicht zu bekommen. Etliche Tage müßten wir schon investieren, wurde uns gesagt, denn Tiger sind Einzelgänger. Das Territorium eines Männchen umfaßt an die 20 Quadratkilometer. In seinem Revier duldet er nur einige Weibchen. Sämtliche Tiere grenzen ihre Gebiete mit Duftmarkierungen und Kratzspuren an den Bäumen peinlichst gegeneinander ab. Lediglich in der Paarungszeit tun sich Weibchen und Männchen eine gute Woche lang zusammen und begatten sich in diesen Tagen unzählige Male ungestüm: fauchend, mit den Tatzen schlagend und mit Nackenbissen. In den Ruhepausen lecken sich sich gegenseitig das Fell.

Nach einer Tragezeit bis 115 Tagen wirft das Weibchen an einem geschützten Platz ihre Jungen. Manchmal sind es bis zu sieben Kätzchen pro Wurf, von denen meist aber nur zwei oder drei überleben. Tigerinnen ziehen ihre Jungen allein auf, der Vater würde die wehrlose Nachkommenschaft töten. Der Unterhalt der Familie ist für das Muttertier anstrengend und kräftezehrend – im Schnitt ist nur einer von 20 Jagdversuchen erfolgreich. Für die Weibchen kommt erschwerend hinzu, daß sie sich in der ersten Zeit bei der Jagd nicht weit von ihren Jungen entfernen können. Sambarhirsch und Buschschwein sind die begehrtesten Beutetiere. Mit fünf Monaten fangen die kleinen Katzen an, größere Wanderungen mit der Mutter zu unternehmen und ihr bei der Jagd zuzuschauen. Doch erst mit dreizehn Monaten beherrschen sie diese Kunst so weit, daß sie der Alten das Wild zutreiben. Mit zwei Jahren lösen sich die nunmehr erwachsenen Raubkatzen endlich von Mamis Fellzipfel.

Ganga Kali schwenkt seinen Rüssel aufgeregt hin und her und zieht laut röchelnd die Luft ein. Der Mahout Idrees dirigiert ihn mit einem Fußdruck zu einer Mulde. Kein Zweifel: Der Tiger war vor kurzem hier. Die blutigen Läufe einer Antilope im niedergelegenen Gras sind das Zeugnis. Ein paar Meter weiter liegt zwischen den dichtstehenden Halmen ein riesiges Stück Fleisch. Mit einem leisen Ruf bringt Idrees den Elefanten zum Stehen, lauscht und späht. Aber der Tiger ist entwischt.

In den siebziger Jahren wurden die Tiger in vielen Schutzgebieten Indiens für die Touristen und Forscher mit lebenden Ködern angelockt. Das Hausvieh, meist Büffel, wurde an einem Beobachtungsplatz angepflockt. Die Tiere brüllten voller Todesangst. Diese Praxis ist seit 1980 jedoch in den meisten Nationalparks verboten. Heute wird nur noch dann geködert, wenn es einen Tiger zu identifizieren gilt, der einen Menschen gefressen haben soll. Das kommt selten vor, sagen die Experten, aber trotzdem wird an der Legende weitergestrickt, um eine Legitimation für den Abschuß der Tiere zu haben. Aber man sollte auf Safari trotzdem nicht leichtsinnig werden. In den meisten Nationalparks ist es strikt untersagt, zu Fuß durch die Wildnis zu streifen. Im ältesten Tiger-Reservat, dem Corbett-Nationalpark, wurde vor einigen Jahren ein britischer Ornithologe abseits des Weges von der großen Raubkatze getötet.

Die feuerrote Sonne versinkt am Horizont. Gleich wird es dunkel. Wir müssen ins Camp zurück. Auf dem Heimweg passieren wir eine Wasserstelle, an der mehrere Hirsche weiden. Der purpurfarbene Himmel taucht die Szenerie in ein atemberaubendes Licht. Da schallt der laute Schreckensruf des Alarmvogels aus dem Dschungel. Mit einem Ruck fahren die Köpfe der Hirsche hoch. Die Papageien und Affen verstummen. Es ist mucksmäuschenstill. Nur die Zikaden sirren. Mit aufgestellten Ohren und Schwänzen äugen die Hirsche reglos in den Wald. Etwas abseits von der Gruppe steht eine Sambarhirschkuh. Zitternd macht sie einen Schritt nach vorn, stampft wütend mit dem Huf auf, daß die Erde aufspritzt, und stößt ein schauerliches Röhren aus. „Tiger, Tiger“, flüstert der Mahout aufgeregt. Diesmal sind wir ihm wirklich ganz nah. Aber dann fällt die schwarze Nacht über den Dschungel, und man sieht nichts. Überhaupt nichts.

Informationen über die Nationalparks: Reiseführer Natur „Indien“, von Gertrud und Helmut Neumann-Denzau, 1992, erschienen im BLV Verlag München. Und: Bildband „Tiger, über das unbekannte Familienleben der indischen Großkatzen“ von Valmik Thapar und Fateh Singh Rathore, 1990, erschienen im Westermann Verlag