: Arbeit ohne Netz und Absicherung
Heute wurden die Arbeitsmarktzahlen bekanntgegeben. Eine Gruppe, die nicht mitgezählt wird, sind AkademikerInnen.
Monika Süss hat zwar zu Ende studiert, aber seit ihrem Magisterabschluß keinen festen Job gefunden. Trotzdem betrachtet sich die 36jährige Anglistin nicht als erwerbslos. „Im Moment bin ich halt finanziell etwas klamm“, sagt sie.
Das wird sich demnächst mal wieder ändern. Ein Werkvertrag sichert ihr für die redaktionelle Endbearbeitung von Forschungsberichten 5.000 Mark Honorar zu – besser als nichts. Die Anglistin arbeitet „selbständig“. Sie ist eine von Tausenden arbeitsloser AkademikerInnen in Deutschland, die aus der Not der Erwerbslosigkeit eine Tugend machen und sich als „Selbständige“ eine eigene Existenz erschuften müssen, damit sie nicht arbeitslos werden.
Drei Millionen Selbständige gibt es in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu zählen neben dem Löwenanteil der gewerbesteuerpflichtigen Unternehmer auch rund 550.000 selbständige „Freiberufler“: Ärzte, Rechtsanwälte und Architekten, aber auch immer mehr Unternehmensberater, Dozenten, Publizisten und Künstler. „Der Anteil der Freiberufler an den Erwerbstätigen nimmt beständig zu“, beobachtet Geschäftsführerin Barbara Kienle vom Bundesverband freier Berufe in Bonn. In den Jahren 1977 bis 1989 stieg die Zahl der selbständigen Freiberufler laut Mikrozensus von 295.000 auf 415.000 (West) und wird gegenwärtig auf 478.000 (West) und 70.000 (Ost) Erwerbstätige geschätzt. Für viele Akademiker bedeutet die selbständige Tätigkeit die Flucht nach vorn – oftmals in nur vage umrissene Berufsfelder.
So weist die West-Statistik für 1989 allein 20.000 PR-Berater aus, 1977 waren es noch ganze 550 gewesen. Auch die Zahl der Publizisten hat sich im gleichen Zeitraum auf 11.700 nahezu verdoppelt.
Hochschulabsolventen übersetzen Gebrauchsanweisungen für technische Geräte, lektorieren Kapitel für Schulbuchverlage und unterrichten Arbeitslose in Englisch oder Textverarbeitung. „Solche freien Tätigkeiten laufen nicht über das Arbeitsamt, da können wir nur informelle Tips geben“, erzählt Horst Kunz vom Fachvermittlungsdienst für Akademiker beim Arbeitsamt 4 in Berlin.
Die Arbeitsämter können den Akademikern nur sozialversicherungspflichtige Jobs vermitteln – genau diese Versicherungsbeiträge aber sollen Firmen sparen, wenn sie Tätigkeiten im sogenannten „outsourcing“ zunehmend an Selbständige vergeben. Unternehmen lassen sich die technische Dokumentation zunehmend von selbständigen Sprachwissenschaftlern und Software-Spezialisten erstellen. Verlage heuern für ihre Übersetzungen und Graphiken externe Lektoren an, Weiterbildungsfirmen verpflichten nur noch freiberufliche Dozenten.
Um an solche freien Tätigkeiten heranzukommen, seien „Eigeninitiative und Kontakte“ besonders wichtig, so Horst Kunz. Von guten Nerven ganz zu schweigen. Denn die Konkurrenz um die Honorarjobs und Werkverträge ist hart. Um die Nischen kämpfen inzwischen nicht nur ökonomisch und technisch fortgebildete Geistes- und Sozialwissenschaftler, sondern zunehmend auch Betriebswirtschaftler und Ingenieure. „Durch die Rezession in der Industrie sind die Einstellungschancen in den Unternehmen auch für diese Absolventen schlechter geworden“, stellt Eberhard Mann fest, Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit.
Ein Indiz für das schärfere Klima ist das Gehaltsniveau der abhängig Beschäftigten. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) üben nur noch 25 Prozent der Hochschulabsolventen Tätigkeiten auf traditionellem Akademikerniveau aus. Der Rest gibt sich mit dem Gehalt beispielsweise von Sachbearbeitern oder höheren Fachkräften zufrieden.
Ein mäßiges, aber festes Einkommen würde für manche der unfreiwillig Selbständigen schon den Himmel auf Erden bedeuten. Nicht wenige der Freiberufler krebsen am Existenzminimum herum. Dies gilt vor allem für Selbständige in den „freien Kulturberufen“, also bildende Künstler, Schauspieler, Musiker und Publizisten. Die Zahl dieser Erwerbstätigen ist in den vergangenen 15 Jahren im Westen von 53.000 auf rund 71.000 angestiegen (im Osten: 10.500).
„Im Kulturbereich beobachten wir einen deutlichen Trend zur Selbständigkeit“, bestätigt Siegfried Heise von der Künstlersozialkasse KSK in Wilhelmshaven. Die staatlich subventionierte KSK versichert Künstler und Publizisten und steuert den Arbeitgeberbeitrag zu deren Kranken- und Rentenversicherung bei. Sie ist ein Rettungsanker für jene selbständigen Kulturschaffenden, die sich sonst eine Versicherung gar nicht leisten könnten – aber auch eine günstige Möglichkeit für Kulturbetriebe, sich der Verpflichtungen für Festangestellte zu entledigen.
„Viele private Anbieter in den elektronischen Medien arbeiten zunehmend mit Honorarkräften, die sich dann bei uns versichern wollen“, so Heise. Ursprünglich nur für einen kleinen Kreis von Künstlern und Publizisten gedacht, sind über die KSK inzwischen 65.000 Freiberufler versichert, darunter etwa ein Drittel sogenannte Berufsanfänger in den ersten fünf Jahren ihrer selbständigen Tätigkeit. Im alten Bundesgebiet stieg die Zahl der KSK-Versicherten von 23.000 im Jahre 1985 auf gegenwärtig etwa 58.000.
Die Künstlersozialkasse achtet daher inzwischen auf deutliche Abgrenzungen. „Wir haben schon eine relativ hohe Ablehnungsquote“, so Heise. Wer beispielsweise immer nur monateweise als Produktionsassistent verpflichtet wird und gar kein selbständig erstelltes Werk abliefert, hat wenig Chancen auf Aufnahme. Im Durchschnitt wird nur jeder zweite Neuantrag bewilligt. Für nicht wenige der studierten Freiberufler bedeutet eine Mindestabsicherung wie bei der KSK aber schon rettendes Ufer, so gering sind oft die Einkünfte. Die bei der KSK Versicherten gaben im Durchschnitt ihr Monatseinkommen im Jahre 1992 mit 1.630 Mark (West) beziehungsweise 1.103 Mark (Ost) an. Allerdings geht man bei der Künstlerkasse davon aus, daß sich so mancher Freiberufler zu niedrig einstuft, um den eigenen Versicherungsbeitrag möglichst gering zu halten. Aber selbst der kleine Beschiß mit der Sozialversicherung, die kleine Untertreibung bei der Steuererklärung können die fehlenden Sicherheiten der Freiberufler wider Willen zumeist nicht ausgleichen.
Tarifliche Garantien gibt es ebensowenig wie einen irgendwie gearteten Kündigungsschutz, geschweige denn einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. „Viele Geisteswissenschaftler, die sich bei uns arbeitslos melden, suchen eine Tätigkeit, haben aber keinen Anspruch auf Leistung“, schildert Kunz von der Berliner Fachvermittlung.
Gering sind da die Chancen auf durch das Arbeitsamt geförderte Weiterbildungsmaßnahmen. Der Unterhalt während der Kurse wird für Nicht-Leistungsempfänger ohnehin nicht übernommen, Lehrgangsgebühren nur in wenigen Fällen bezahlt. Von den arbeitslos gemeldeten Lehrern und Geisteswissenschaftlern mit Magisterabschluß büffeln derzeit etwa fünf bis zehn Prozent in Weiterbildungskursen, schätzt Kunz. Termine beim Arbeitsberater gibt es nur nach Vorsprache beim Arbeitsamt und anschließender Gruppensprechstunde auf schriftlichen Antrag.
Verständlich, daß die meisten der erwerbslosen Akademiker daher erst gar keine Hilfe vom Arbeitsamt erwarten. Monika Süss käme gar nicht auf die Idee, beim Berufsberater vorzusprechen. Sie baut lieber auf ihr berufliches Patchwork als Lektorin, Dozentin und Übersetzerin.
„Für mich ist erstens wichtig, daß meine Auftraggeber pünktlich zahlen, und zweitens, daß der nächste Job in Aussicht ist“, meint sie. „Man hält sich halt nervlich so auf einem bestimmten Level und hofft, daß alles irgendwie doch noch besser wird.“ Barbara Dribbusch
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