: Schwindler, Wüstenkinder, Stadtratten
Die Filme der diesjährigen Kinderberlinale spielen fernab der großen Zentren. Schauplätze der Bewältigung des Kinderalltags sind Dörfer, Kleinstädte, die Wüste, karge Steppenlandschaften und das australische Outback ■ Von Gerd Hartmann
In einem Dorf in Guinea träumt ein Junge von der großen Fußballerkarriere. Im persischen Isfahan schreibt ein anderer Gedichte und liest Victor Hugo. Auch der zehnjährige Gopal sucht in seinem indischen Nest lieber phantastische Mythen, als in der Schule und Zuhause zu tun, was von ihm erwartet wird. Die Film-Geschichten der diesjährigen Kinderberlinale spielen fernab der großen Zentren.
Dörfer und Kleinstädte, die Wüste und die karge Steppe sind die Schauplätze. Der Blick geht auf den Kinderalltag, seine Bewältigung gibt die Geschichten ab. Die Innenansicht der kleinen Welten öffnet die Sicht auf die verschiedenen Kulturen, fast alle Filme tauchen ohne folkloristisches Gepränge in die Lebensbedingungen ihrer Protagonisten ein, wecken Interesse für das Fremde. Von den zwölf Langfilmen, die das Kinderfilmfest präsentiert, spielt nur ein einziger in Nordwesteuropa.
Dafür ist China – mit seiner kontinuierlichen Kinderfilmproduktion einer der beständigsten Festivalteilnehmer – gleich mit zwei sehr gegensätzlichen Streifen dabei. „Der Schwätzer“ (Lui Miaomiao, 1992), der letztes Jahr in Venedig einen Spezialpreis erhielt, beschreibt, wie ein Kind durch seine Spontaneität immer wieder an die Grenzen dessen stößt, was für die Erwachsenenwelt akzeptierbar ist. Das Leben in seinem Dorf ist geprägt von latenter Gewalt, die auch in der Familie bis ins letzte Glied weitergegeben wird. Die Kälte der chinesischen Winterlandschaft korrespondiert mit der Kälte hinter den Hausmauern. Erst am Ende ist der triste Innenhof des Wohnhauses in gleißendes Licht getaucht. Der zehnjährige Junge hat sich der Verantwortung gegenüber seiner Familie gestellt – eine für das mitteleuropäische Verständnis von Kindheit schwer nachvollziehbare, positiv gemeinte Auflösung.
„Auf der Suche nach dem Glück“ (Xing Yung Suo Suo, 1992) kommt wesentlich leichtfüßiger daher. Auch hier nimmt das Kind die Sache in die Hand. Weil Mutter die Familie verlassen hat, sucht Gao Cheng für seinen tapsigen Vater eine neue Frau. Das bietet natürlich genügend Stoff für Sitcom at it's best. Trotzdem bleibt der Film immer zurückhaltend, gleitet nie in die Klamotte ab – Familienkino auf chiensisch.
Aus der europäischen Kinoproduktion ist dieses Genre weitgehend verschwunden. Familienfilm existiert fast nur noch in der Fernsehvision. Eine gewisse Ausnahme bilden die nordeuropäischen Länder, hauptsächlich Dänemark mit seiner gezielten Produktions- und Verleihförderung. Zum ersten Mal seit Jahren fehlt der nördliche Nachbar im diesjährigen Programm. Gleichwertiger Ersatz kommt allerdings aus Norwegen/ Schweden. Der Eröffnungsfilm „Kalle und die Engel“ (Regie: Ole Björn Salvesen, 1993) hat alles, was den nordischen Kinderfilm in den letzten Jahren so spannend gemacht hat. Auf der Grenzlinie zwischen Fantasy und Realismus wird ein brisantes Thema aus der Kinderperspektive behandelt. Kalles Vater verunglückt bei einem Flugversuch mit einem selbstgebauten Drachenflieger. Der Junge verarbeitet seinen Tod, indem er fest daran glaubt, daß der Vater als Engel zur Erde zurückkehren wird. Tatsächlich verheddert sich ein weißgeflügeltes Geschöpf in einem Baum im Garten. Die Phantasie überlappt die Wirklichkeit – die Engel sind plötzlich so diesseitig, daß sogar die Erwachsenen daran glauben. Salvesen macht aus diesem himmlischen Plot kein rührseliges Märchen. Er nimmt seine Geschichte ernst. Andererseits schwingt eine sanfte Ironie über das Unglaubliche mit. Das macht den Film zum Federgewicht. Einen ähnlichen Anspruch hat Renzo Martinellis „Sarah siegt“. Das Leben im südafrikanischen Apartheitstaat ist Gegenstand dieses italienischen Films, die Geschichte erzählt den schweren Weg eines farbigen, behinderten Mädchens von der verspotteten Außenseiterin zur Weltklasseschwimmerin. Martinelli – der seine Meriten bisher hauptsächlich als Werbe- und Videoclipfilmer verdiente – rennt atemlos dem großen Kino hinterher: die Kamera fährt ständig, originell positioniert, in erlesen ausgeleuchteten Szenarien herum. Das alte Hollywood-Paradigma vom versoffenen tough guy mit dem versteinert-goldenem Herzen – hier in der Sportreporterversion – wird gänzlich unironisch aufgewärmt. Der aufdringliche Traumfabriklack zerglänzt alles. Nach zehn Minuten sind alle Fährten gelegt, die restlichen 100 wartet man im Bildermatsch aufs vorhersehbare Ende.
Daß Bilderkino auch im Kinderfilm möglich ist, wenn es mit der Geschichte einhergeht, beweist David Elficks „No worries“ (Australien/GB, 1993). Das harte Farmerleben im australischen Outback, wo Stürme und Hitze den Bewohnern zusetzen, springt einem in satten Farben ins Gesicht. Mit großer Ruhe beschreibt er das zähe, am Ende vergebliche Ringen einer Schafzüchterfamilie gegen Naturgewalten und fallende Wollpreise. Die Landschaft und die Gesichter der Menschen ergeben ein Steinbecksches Ganzes. Sydney, wohin die Familie nach dem verlorenen Kampf ziehen muß, erscheint demgegenüber als neonhektischer, kultureller Schmelztiegel. Erst die letzte Einstellung am Strand versöhnt die beiden Welten. Auch Arend Aghte („Flußfahrt mit Huhn“) pokert mit Bildtrümpfen. Sein Schauplatz ist die turkmenische Salzwüste, die auch den Filmtitel abgibt. „Karakum“ (Deutschland/Turkmenistan, 1993) kommt trotzdem nur in wenigen Momenten über Fünf- Freunde-Format hinaus. Dabei gäbe die Grundkonstellation einiges her. Ein deutscher und ein turkmenischer Junge sitzen nach einer Lastwagenpanne mitten in der Wüste, ohne Aussicht auf Rettung. Keiner spricht des anderen Sprache, dennoch müssen sie einen gemeinsamen Ausweg finden. Anstatt sich auf die langsam entstehende Beziehung zu konzentrieren, greift Agthe in die Abenteuerkiste. Sogar eine Drogengeschichte soll für zusätzliche Spannung sorgen. Das ergibt eine ziemlich konstruierte Aneinanderreihung gefährlicher Situationen bis zur finalen Rettung. Solch aufgeblasene Geschichten sind allerdings nicht typisch. Die oft harten Lebensbedingungen sind immer wieder eine Herausforderung, der sich die Kinder stellen.
Manchmal geht es um das schiere Überleben. In „Die ersten kalten Tage“ (Bolar Kalymbetov, Kasachstan 1993), zeigt schon die erste Szene – mehrfach in zeitlupe wiederholt – daß es keine Scham mehr gibt: Kinder erstechen hinterrücks einen Soldaten, um an seine Essensration zu kommen. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellt sich die Frage nach Recht oder Unrecht nicht mehr. Für die ihrer Kindheit beraubten Kinder reicht die Hoffnung nur noch bis zur nächsten Mahlzeit. Sie leben in einem gestrandeten Boot, Züge fahren ins Nirgendwo, Fabrikschlote ragen aus dem Schnee. Die in harten schwarz-weiß fotografierte Symbolik weist in eine trostlose Sowjet- Zukunft. Die Freude über die Nachricht vom Kriegsende dauert nur einen kurzen Moment. Die anderen Filmkinder kämpfen etwas weniger existentiell. Fast alle bestehen ihre Konflikte mit Kraft und Durchsetzungswillen.
Eigenwillige Lösungen bringen sie dem einen Schritt näher, was eine unschuldig-gradlinige Perspektive sein könnte. Die Veränderungen sind keine großen, sondern kleine persönliche Siege.
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