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Die Zukunft heißt Verteilungskampf

■ Die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer zur Armut im Bezirk / Sozialbereich, freie Träger und Sozialamt „in der Öffentlichkeit noch viel zu ruhig“

taz: Ist Kreuzberg der ärmste Bezirk Berlins?

Ingeborg Junge-Reyer: Kreuzberg ist einer der ärmsten Bezirke. Das liegt vor allem an der Hauptursache für Armut, der Arbeitslosigkeit, die in Kreuzberg in den letzten Wochen und Monaten überproportional gestiegen ist und von überdurchschnittlich vielen Langzeitarbeitslosen geprägt ist.

Wird sich diese Situation weiter verschlechtern?

Weil das vom Arbeitsmarkt abhängt und es darauf ankommt, ob es in Zukunft Maßnahmen der Bundesregierung zur Arbeitsförderung geben wird, wird sich die Situation nach meiner Einschätzung im Moment eher verschlechtern.

Wie kann das Bezirksamt den Verarmungsprozeß bremsen?

Das Bezirksamt selbst kann Arbeitsplätze anbieten. In den letzten drei Jahren haben wir etwa tausend Arbeitsplätze finanziert. Und das Bezirksamt kann all diejenigen unterstützen, die die Folgen der Armut zu spüren kriegen, die von Wohnungsnot und Obdachlosigkeit bedroht sind. Wir haben im letzten Jahr etwa eine Million Mark für rückständige Mieten ausgegeben.

Was unterscheidet Kreuzberg von anderen Bezirken im sozialen Bereich?

Kreuzberg unterscheidet sich dadurch, daß es in den Gebieten um den Bereich Wiener Straße/ Mariannenplatz immer noch Häuser gibt, in denen sehr viele Menschen sehr dicht beieinander leben, weil es ihnen nicht gelungen ist, woanders bezahlbare Wohnungen zu finden. Es unterscheidet sich auch durch den geringen Qualifizierungsstand bei der Berufsausbildung und dadurch, daß aus dem Bezirk heraus immer wieder versucht wird, neue Wege zu finden, um die soziale Situation wenigstens zu mildern.

Läßt es sich verhindern, daß das Netz aus freien Trägern letztendlich reißt?

Letztlich sind die Träger der Beratungsstellen und die Initiativen in der gleichen Situation wie die MitarbeiterInnen der Sozialämter. Beide müssen Kürzungen im Gesamtumfang von etwa zwanzig Prozent hinnehmen. Das wird sich in Zukunft um Verteilungskämpfe handeln. Das heißt, wir werden Diskussionen im Bezirk führen müssen und nicht mehr irgendwo auf Senatsebene. Für den sozialen Bereich müssen wir gemeinsame Strategien entwickeln, um Schwerpunkte zu setzen an den Stellen, wo es überhaupt noch möglich ist, Ausgaben zu tätigen. Die freien Träger werden sich miteinander verständigen müssen, wo welche Leistung angeboten wird, und ihr Angebot mit dem Bezirksamt abstimmen. Dann wird in der Bezirksverordnetenversammlung diskutiert, was wir im Bezirk politisch an erster Stelle wollen. Der Sozialbereich, die freien Träger und die MitarbeiterInnen des Sozialamtes im übrigen auch, sind nach meiner Auffassung bisher in der Öffentlichkeit noch viel zu ruhig. Ich erwarte, daß Vorschläge gemacht werden, wie man gemeinsame Strategien entwickeln kann.

Bleibt da nur noch die Verwaltung der Armut?

Es gibt Gestaltungsmöglichkeiten, die manchmal übersehen werden. Wenn wir Armut nur verwalten würden, dann hätten wir in Kreuzberg 500 Obdachlose und 2.000 Sozialhilfeempfänger mehr. Olaf Bünger

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