■ Eine Erwiderung auf Ralph Giordano
: Unverständliche Attacke

Es ist immer schwierig, das Urteil am Ende eines Prozesses zu beurteilen, dem man selbst nicht beiwohnte. Wie die Beweisaufnahme geführt wird, wie die Angeklagten und Zeugen angehört werden, schlicht der gesamte Prozeßverlauf, die Atmosphäre, sagen häufig mehr über den Zustand der Gesellschaft aus als der Richterspruch. Das Ergebnis im Wuppertaler Prozeß läßt aufhorchen: Nicht intensiver Alkoholkonsum führte zu dem Gewaltexzeß und schließlich zum Tod von Karlhans Rohn, sondern die rechtsradikale Aggressionsbereitschaft der beiden Skinheads in Verbindung mit den Hetzparolen des Gastwirtes. Damit stellte das Gericht endlich den Tatverlauf vieler rechtsradikaler Übergriffe vom Kopf auf die Füße: Erst kommt die rechtsradikale Überzeugung und dann das Bier!

Um so unverständlicher die Attacke Ralph Giordanos in der gestrigen taz auf dieser Seite. Was erwartet er von einem Gerichtsurteil? Gerechtigkeit? Sühne? Wiedergutmachung? Gegen die beiden Täter von Mölln wurde die in der Bundesrepublik höchstmögliche Strafe verhängt – einmal „lebenslänglich“ und zehn Jahre Jugendhaft. In Wuppertal nun Haftstrafen zwischen acht und vierzehn Jahren. Giordano fordert für die drei Verurteilten als einzig angemessene Strafe: „lebenslänglich“. Dazu müßte geltendes Recht gebeugt werden. Mag es für das Opfer und für das persönliche Rechtsempfinden keinen Unterschied machen, ob jemand selbst mordet, Beihilfe zum Mord leistet, Jugendlicher ist oder Erwachsener; für die Rechtsprechung sind das allerdings Kategorien, die es zu achten und zu beachten gilt.

Zum Beispiel hätte der zum Tatzeitpunkt 19jährige Michael Senf theoretisch nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden können; damit wäre ein Strafrahmen über die im Jugendstrafrecht maximal vorgesehenen zehn Jahre eröffnet. Dafür müßte man allerdings die bei abzuurteilenden Heranwachsenden übliche gutachterliche Würdigung des intellektuellen Reifegrades und Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung unberücksichtigt lassen. Die von Ralph Giordano gewünschte Satisfaktion wird im Jugendstrafrecht erst möglich sein, wenn sich die „Reform“- Vorstellungen der CDU und CSU durchgesetzt haben sollten. Geplant sind von den Unionsparteien eine verstärkte Bestrafung Heranwachsender nach dem Erwachsenenstrafrecht und Erhöhung der Mindest- und Höchststrafen vor allem bei Gewalttaten.

An einem Punkt stimme ich mit Ralph Giordano überein: Das Wuppertaler Urteil vermindert die prekäre Situation für Juden in Deutschland nicht, ebensowenig, wie das Möllner Urteil den türkischen Immigranten mehr Sicherheit verschafft oder andere Opfergruppen sich erleichtert und befreit fühlen können. Zwar ist sich die Mehrheit der Bundesbürger – bis weit in die Reihen der „Republikaner“ – einig in der Forderung nach härterer Bestrafung von (rechtsradikalen) Gewalttätern. Was sie aber nicht daran hinderte, die Scham, die sie angesichts der erschreckenden Bilder aus Rostock und Solingen empfunden haben mögen, zu verdrängen. Binnen weniger Monate wurde aus „Ausländerfeindlichkeit“ „Ausländerkriminalität“, wurden die Opfer erneut zum Aggressor. In der Titelgeschichte der aktuellen Focus-Ausgabe liest sich die jüngste Form deutscher „Vergangenheitsbewältigung“ dann so: „Trotz Mölln und Solingen: Das Thema Ausländerkriminalität kann nicht länger tabuisiert werden.“

Die „Zweite Schuld“ der bundesdeutschen Gesellschaft besteht nach Solingen nicht in einer augenzwinkernden Kumpanei der Justiz mit den Tätern, sondern im mangelnden Willen und in der fehlenden Kraft für den überfälligen Neubeginn in der politischen Ausgestaltung des Einwanderungslandes Deutschland. Diese politischen Unterlassungssünden können auch Strafrechtsverschärfungen und Verbotsanträge gegenüber neonazistischen Organisationen nicht kompensieren. Eberhard Seidel-Pielen

Autor diverser Bücher über Rechtsradikalismus und Jugend. Im Mai erscheint bei Rotbuch „Die Scharfmacher – Schauplatz Innere Sicherheit“.