: Bekenntnisse eines Hypochonders
Joachim Fests Schwierigkeiten mit der Freiheit, der doppelgesichtigen ■ Von Christian Semler
Der Zusammenbruch des osteuropäischen Realsozialismus hat dem Westen, wie wir heute wissen, nicht zur reinen Freude gereicht. Die östlichen Machthaber verabschiedeten sich klaglos und gönnten ihrem Widerpart nicht mal das Winseln, das ihnen Ronald Reagan vorausgesagt hatte. Wo man hinsieht: statt Begeisterung Verlegenheit, Identitätsschwäche angesichts des verlorenen Feindes und vor allem nagende Angst, in die Erschütterungen des osteuropäischen Übergangs hineingezogen zu werden. In dem Augenblick, wo niemand bereit ist, eine Alternative zu Markt, Privateigentum und parlamentarischer Demokratie auch nur anzudeuten, macht sich in den Sieger-Gesellschaften allgemeines Mißvergnügen breit. Nicht nur das politische Personal, auch der demokratische Entscheidungsprozeß scheint vom westlichen Staatsbürger mit einer Geringschätzung behandelt zu werden, die der Stunde des Triumphs über den östlichen „Totalitarismus“ gänzlich unangemessen ist.
Diese Sachlage bildet den Ausgangspunkt von Joachim Fests Essay „Die schwierige Freiheit“. Der Grundgedanke, um den Fest unermüdlich seinen Achter zieht, besteht in einem Dilemma. Einerseits benötigt der liberale Staat einen stabilen Wertekonsens, kann ihn aber andererseits weder schaffen noch erhalten. Denn es widerspräche den Voraussetzungen des freiheitlichen Systems, einen Tugendkanon, eine „zivile Religion“ oder dergleichen vorzuschreiben oder auch nur zu propagieren. Wertvorstellungen müssen aus der Gesellschaft kommen. Die aber besteht nach Fest aus lauter Egoisten, die vom Staat auch noch verlangen, ihnen sowohl zu mehr Selbstverwirklichung als auch zu mehr Sicherheit zu verhelfen. Aber beides zusammen geht nicht.
Die Utopien sind gescheitert, aber die Bürger fühlen sich nicht befreit. Die Menschen, selbst die Politiker, gieren nach Lebenssinn, den der Staat nicht herbeischaffen kann. Fest beobachtet weltweit die Flucht zurück in eine Welt „primitiver Stammesbindungen“. In der westlichen Kultur diagnostiziert er allerorten regressive Tendenzen. Irgendein Musikredakteur der FAZ hat ihm eine Liste von Bands mit destruktiv-martialischen Namen zusammengestellt, die er mit spürbarem Ekel als Beweisstück vorlegt. Aus Fests Warte spielt dabei keine Rolle, daß jene Musikgruppen gänzlich unterschiedlichen Stilen und politischen Orientierungen anhängen. Der Theaterbetrieb ist ihm ein einziges „Feierabend-Pandämonium aus Perversion, Gewalt und Obszönität“. Überflüssig zu sagen, daß am Beginn dieser unheilvollen Entwicklung für Fest die „Regelverletzungen“ der 68er stehen. Sie waren es, die das dünne, verletzliche Gewebe von Konventionen, das uns von der Barbarei trennt, zerstörten – in der törichten Hoffnung auf echte, unverstellte, menschliche Beziehungen. Spätestens hier hofft der Leser bei einer Arbeit aus dem Jahr 1993 auf einige und seien es noch so verdachtspsychologische Bemerkungen zum Thema rassistischer, ausländerfeindlicher Gewalt in der Bundesrepublik. Aber bei einem Abstraktionsniveau, das es bei der Verletzlichkeit des „Zivilisationfirnis“ beläßt, sind solche Erörterungen überflüssig. Sie wären sowieso nur Ausdruck des „Sozialhelfer-Kitschs“, der nach Fests Meinung den Blick auf die wahre Menschennatur verstellt.
Joachim Fests Essay beruft sich durchgängig auf Alexis de Tocquevilles Analysen zur Gefährdung der Demokratie durch die Tyrannei der Gleichgültigkeit und Selbstsucht, wie sie vor allem in dem großen Werk „Über die Demokratie in Amerika“ zu finden sind. Aber was Fest als „schwachen Hoffnungsschimmer“ Tocquevilles ansieht, nämlich dessen Beschreibung der vielfältigen „zivilen“ Zusammenschlüsse der amerikanischen Bürger, ist in Wirklichkeit ein zentrales Argument Tocquevilles für das Überleben der Demokratie und darüber hinaus ein Entwurf der „Bürgergesellschaft“ in nuce. Den „Vereinigungen“ schreibt Tocqueville eine große, Werte generierende Kraft zu: „Nur durch diese gegenseitige Wirkung der Menschen aufeinander erneuern sich die Gefühle und die Ideen, weitet sich das Herz und entfaltet sich der Geist des Menschen“ (Tocqueville, von Fest nicht zitiert). Um jeden Preis muß Fest die Elemente des amerikanischen Liberalismus negieren, die die Bedeutung von radikal-demokratischen Organisationen, von Minoritäten und religiösen bzw. intellektuellen Gruppen für das Fortleben der Demokratie betonen. Daher auch kein Wort über Hannah Arendts Insistenz auf den Frühformen lokaler Basisdemokratie in den USA, kein Wort über Jeffersons Vorschlag, die Demokratie in jeder Generation revolutionär zu erneuern. Dafür aber eine offensichtlich falsche Interpretation des Verfassungssatzes vom „Streben nach Glück“, dem Fest eine ausschließlich private Stoßrichtung unterstellt.
Daß es hier um keinen bloßen Theorie-Streit geht, wird deutlich, wenn man Fests denunziatorische Allgemeinheiten über die westliche, speziell die deutsche Gesellschaft, mit der Realgeschichte nach 1989 vergleicht. „Neues Forum“, Demobilisierung der Stasi, Verfassungsentwurf des „Runden Tisches“ im Osten, die „Lichterketten“, die Initiativen gegen die Aushöhlung des Asylrechts, die Hilfsaktionen für Bosnien-Herzegowina – alles Aktionen von Bürgervereinigungen, bei denen die Verteidigung und die Erweiterung demokratischer Positionen auf dem Spiel stehen. Alles Auseinandersetzungen, in denen Minderheiten um die Anerkennung von Werten seitens der Mehrheit in der Gesellschaft streiten und damit, auch wenn sie unterliegen, überhaupt die Voraussetzungen für die Erneuerung des demokratischen Konsenses schaffen. „Um die politische Freiheit zu verlieren, genügt es, sie nicht festzuhalten, und sie entflieht“ (Tocqueville, von Fest zitiert, aber nicht verstanden).
Fest hofft auf einen gesellschaftlichen Zustand, der die Aussicht „auf ein halbwegs zuträgliches Zusammenleben von Menschen mit Menschen eröffnet“. Mehr utopischen Ehrgeiz bringen auch die Bürgerbewegten, Alternativen und Grünen nicht auf. Im Rahmen ihrer Werte-generierenden Tätigkeit haben sie es sogar schon zu etwas Gelassenheit gebracht. Eine zivile Tugend, die man in Joachim Fests hypochondrischen Darlegungen vergebens suchen wird.
Joachim Fest: „Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft“, Siedler Verlag, 127 Seiten, 29,80 DM
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