: Best of Stunk: Die Pappnase vorn
Als Antwort auf den Spießerkarneval setzt sich im Rheinland Bewußtseinsschunkeln bei Stunk- und Strunxsitzungen durch. Alternativjecken-Motto 94: Hurra, die Krise kommt! ■ Aus Aachen Bernd Müllender
Die Legende sagt, alles habe mit einer Karteikarte angefangen, 1982, in einem kölschen Szenecafé. Pädagogikstudent Jürgen Becker kritzelte einen schwarz-roten Anarchistenstern und arrangierte darauf eine Narrenkappe. Damit war die Idee geboren, die links angehauchte Szene könne fortan auch die Narretei unterwandern. Ein Jahr später startete die erste alternative Stunksitzung den, wie es heute heißt, „langen Marsch durch die Institution Karneval“. Wahre Jecken, hört die Signale: Auf zum „Klatschmarsch der Anarchokarnevalisten“.
Die Antwort auf die grauenvolle, abstoßende Prunksitzungslustigkeit, auf den biederen Sitzungskarneval alter Art war gefunden. Schluß mit der spießbürgerlichen Mischung aus Herrenwitzen, Marschmusik, Schunkeltaumel, Alkoholexzessen und dem Lachen in Reih und Glied zum „Rührt euch!“-Tusch. Niemand mehr brauchte mehr ins garantiert jeckenfreie Ausland zu flüchten vor den dümmlichen Rosenmontagszügen, deren Humorniveau schon in überdicken Pappmaché-Kanzlern an seine Grenzen stößt.
Stunksitzungs-Motto 1994: „Hurra, die Krise kommt!“ In erheblicher Enge haben sich im Kölner E-Werk gut tausend Leute zu vier Stunden „Lust am Untergang“ versammelt: Eine satirische Revue aus Klamauk, Kabarett, Comedy, Akrobatik, höherem und tieferem Blödsinn und reichlich Karnevalsparodie: „Ich glotz TV – ich kotz Helau.“ Grandioser Höhepunkt ist ein Film, der „Alterspräsident“ Jürgen Becker mit seinem „Funkenoffizier“ Didi Jünemann zeigt, wie sie als Abgesandte des „Missionswerks Rheinischer Frohsinn“ in die USA aufbrechen, mit schiefen Narrenkappen durch das Monument Valley („Iss ja ne riesije Kiesjrube hier“) stapfen und in Las Vegas' Spielhöllen zuhauf ahnungslose Amerikaner überfallen, um sie zum Jeckentum zu bekehren. Dat sei so wat wie „born to be fool“. Understand?
Der heute 34jährige Becker leitet die Sitzung als „Irokesenheinz“. Sein Lieblingsobjekt ist die hl. kath. Kirche – 1993 mit erfolgreich provoziertem (und mittlerweile rechtskräftig gewonnenem) Prozeß, weil eine Jesusfigur ein „Tünnes“-Schild statt des „I.N.R.I.“ trug. Durchschnittstyp im Publikum sind die Leute, die gern einmal im Leben ein bißchen Irokesenheinz oder Tünnes wären: Angegraute Linksintellektuelle, Studenten, Gesamtschullehrer und viele Sozialsowiesos. Studienratskalauer kommen am besten. Da lachen sogar die Lehrer mit.
Das Kölner Alternativ-Alaaf ist längst zur Institution mit Kultcharakter geworden. Hinter vorgehaltener Hand wird die Stunkshow selbst von erfahrenen Jeckenfunktionären der anderen Seite als qualitativ das Beste gepriesen, was Kölle karnevalistisch zu bieten habe. Angefangen hat es mit drei improvisierten Sitzungen auf einer kleinen Bühne. Dieses Jahr kamen 33.000 Leute zu 30 Terminen. West 3 überträgt im Fernsehen, ein „Stunk Best of“ ist als CD erhältlich.
Die Eintrittskarten (Umsatz über eine Million Mark) sind Spekulationsobjekte und an einem Vormittag ausverkauft. Die ersten harrten schon, teilweise als Strohmänner beauftragt für sieben Mark Anstellgebühr (Festtarif), abends um sechs vor den Vorverkaufskassen aus. Durch die Nacht gebracht wurden sie von den Veranstaltern mit Glühwein und Spekulatius. Mitstunker Winni Rau spricht von der „Fürsorgepflicht“ und stellt klar: „Telefonische Vorbestellungen sind tabu. Nachher hast du ein Publikum, das du gar nicht willst.“ Schließlich hatten auch schon so unalternative Kreise wie die komplette Kölner CDU- Rathausfraktion um Karten gebettelt. Ohne Chance, wie Rau betont. „Wir wollen halt keine Kungelei.“ Köln aber wäre nicht Köln, wenn im alljährlichen Kampf um die Reliquie Eintrittskarte nicht stets die erfahrensten Klüngelprofis am Ende die Pappnase vorn hätten.
Allein im Kölner Normalkarneval werden jedes Jahr 500 Millionen Mark umgesetzt. Überall zahlen auch die knappsten öffentlichen Kassen Zuschüsse, weil die Tusch-Heiterkeit als Brauchtumspflege gilt. Ja, Karneval ist Kultur. Vor allem aber sind die tollen Tage ein tolles Geschäft. Mit Langzeitwirkung: Im Prunksitzungsbusiness lassen sich Bauunternehmer und Kaufleute in Elferräte oder auf Prinzenthrone hieven zur Pflege persönlicher PR und nachsessionaler Geschäfte.
Auch der politisch ambitionierte Stunkkarneval ist Trittbrett auf der Karriereleiter – hier allerdings branchengleich: Jürgen Becker ist als Solokabarettist, WDR- Radiokolumnist (zusammen mit Didi Jünemann), Fernsehmoderator („Mitternachtsspitzen“) und närrischer Buchautor („Biotop für Bekloppte“) eine vielbelachte Kapazität. Sein Erfolgsrezept: Als Berufskölner die richtige Haßliebe zum Karnevalstum entwickeln und aufstehen gegen „diese ganzen Männerbünde, die ihren alten Muff zelebrieren. Aber man kann es wunderbar verarschen.“
Noch hingerissen vom Kölner Stunk erlebt der Chronist fassungslos die Aachener Ordensverleihung „Wider den tierischen Ernst“. Sie gilt als Vorzeigegala des Frohsinns und bietet Plattheiten und Peinlichkeiten ohne Ende, alles stocksteif in der aufgesetzten Lustigkeit. Vor allem die geschlechtsbezogenen Anzüglichkeiten Richtung Ordensträgerin Renate Schmidt (SPD) überzeugten mit hohem alltagssexistischem Niveau: Aus der Bütt hieß es, die Erscheinung der Bundestagsvizin sei „kolossal“ (Tusch), mann solle sie sich „mal zur Brust nehmen“ (Tusch) und sie eigne sich „als Wärmflasche für den Heeremann“ (Tusch-Tusch-Tusch). Einziger Lichtblick war der wirklich urkomische Büttenredner Norbert Blüm als Nachtgespenst. Sollte die Bonner Koalition im Oktober am Ende sein, wird Blüm pünktlich zur Session 94/95 für neue Aufgaben freigesetzt. Brauchtumspflege statt Pflegeversicherung – auch eine Art Karriere.
Stunk statt Prunk setzt sich auch andernorts durch. Seit einigen Jahren in Bonn und jetzt sogar in der westfälischen Fröhlichkeitsdiaspora Münster, wo es statt Kappensitzung „Kappe ab!“ heißt. In Köln gibt es schon Stadtteilstunksitzungen, fundi-alternative Alternativsitzungen und erstmals in diesem Jahr auch eine Kinderstunksitzung. Jürgen Becker wirbt: „Da werden die Kleinen heute schon jarantiert janz seriös verdorben.“
Nur in der Helau-Hochburg Düsseldorf ist gegenkarnevalistisch tote Hose. 1993 gab es einen zögerlichen Stunk-Versuch, der jedoch nach einer Aufführung abgeblasen wurde wegen Erfolglosigkeit. Schämt sich einer der Organisatoren: „Keine Basis, zuwenig Kabarettisten in der Stadt.“ Typisch, die unfähigen Düsseldorfer, lacht da die kölsche Konkurrenz. Und sie hört, daß sich an der Kö gerade zwei bekannte Büttenredner heftig geprügelt haben. Der Anlaß war ernst: Witzdiebstahl! Inhalt: „Enkel beschenkt Großvater zum 88jährigen Geburtstag mit einer guten und einer schlechten Nachricht. Die gute: ,Du bekommst zwei Striptease-Tänzerinnen geschenkt.‘ Opa jubelt lechzend. Und die schlechte: ,Die sind so alt wie du.‘“ Tusch – ta-taa.
Wie einfach es anders geht, zeigte der Kölner Stunk: „Kommt ne alte Frau zum Arzt. Sacht dä Aaazt: ,Sie haben nur noch drei Tage zu leben.‘ Saacht sie alte Frau: ,Wovon denn?‘“
Aachen hat seit drei Jahren seine Strunxsitzung und jubelt, anders als Köln, sogar einem Gegenprinzen zu. 1992 war ein örtlicher Theatermime und selbstbewußter Offizialschwuler der Rathaustoilette entstiegen und warf Kondome statt Kamelle. „Seine Schwulität Jonathan I.“ versprach mit bühnengestählter Fistelstimme: „Homosexuell, aufrecht und deutsch“ wolle er allen Narren kommen. Kirche, Offizialkarneval und die verklemmte Heimatpresse fanden das erwartungsgemäß widerlich. Humor ist – ta-taa, ta-taa –, wenn man richtig schimpft. Dieses Jahr hatte „Kohle-Jupp aus dem Moneten-Club“ die Prinzenrolle übernommen. Aber mehr pro forma: Als rußverschmierter Bergarbeiter blieb er auf der Bühne bewußt farblos und tat kaum mehr, als die Powershow seiner Kabarettgruppe Grautvornix zu moderieren. Alle waren Prinzen und Prinzessinnen. Adelsinflation also als basisdemokratischer Konter zum sonst so aufgesetzten Hierarchiewechsel zur Karnevalszeit.
Da darf auch Aachens Pantomime Globo als kaugummikauendes Papstdouble zu schwülstiger Revuemusik einer Punkerin frivol an die Brüste, schließlich ist sie um eine handgreifliche Antwort in die Tiefen des Papsttums nicht verlegen. Die 4 lustigen 3 bringen traurige Dialoge, und hernach wird eine nicht existente Strunx-CD angepriesen (ein Wink zur Kölner Konkurrenz). Büttenredner Herr Hammers weiß um die problematische Heiterkeitsdialektik: „Beim Humor, da hört der Spaß auf.“
Anders als beim manchmal zu perfekt inszenierten Kölner Stunk treten in Aachen mehrheitlich Nichtprofis auf. Wohltuende Selbstironie gehört dazu, und da kann dann einer auch mal patzen – „Jetzt hab' ich den Text vergessen, ach egal, mach' ich an einer anderen Stelle weiter“ – das gibt einen schrillen Tusch in Moll und Extraapplaus. Wenn die West K. Pelle zwischendurch immer wieder den Kulthit Strunx-Hymne intoniert, choralt das Publikum mit Inbrunst und am liebsten ohne Ende: „Wir lieben den Skandal – drum schreit der janze Saal: Total ejal! Total ejal!“ Aachens archaisch- schräge Strunx-Show ist die Fortsetzung der überprofessionalisierten Kölner Stunksitzung mit deren anfänglichen Mitteln. „Unverbrauchte Narrenkraft“ lobte gar die Lokalpresse. Die MacherInnen bedauern nur, daß es noch zu keinem Prozeß gereicht hat.
Doch Aachen beklagt auch ein tragisches Opfer. Einer, der den Strunxsitzungen politisch immer den rechten linken Pepp verpaßt hat, fiel kurzfristig aus: Grünen- Aktivist und Sitzungspräses Günter Schabram. Im Vorjahr hatte er noch mit einer hinreißenden Honecker-Parodie die Zuschauer zum Toben gebracht: „Glaubt eurem Erich, es bleibt dabei: ,Der Sozialismus siegt – oder die Barbarei!‘“ Jetzt wollte er zum Superwahljahr das Allheilmittel Super- Strunx-Partei ins Leben rufen – und erkrankte während der Proben plötzlich an Schlaflosigkeit.
Zwei Wochen lang tat er – „völlig überpowert und überdreht“ – kein Auge zu. Ärzte, Psychologen und Heilpraktiker wurden konsultiert, erfolglos. Diagnose schließlich: unbewußte Karnevalsallergie und frühkindliche Wunden durch die verordnete Lustigkeit, die sich jetzt verspätet Bahn brächen. Erschöpft schleppte sich Schabram als Zuschauer zur Premiere und wies seine begeisterten Parteifreundinnen Christa Nickels und Antje Vollmer („Evangelische Pastorin! Und dann noch aus Ostwestfalen! Und – die war völlig jeck.“) in den Gegenkarneval ein. Doch Schlaf fand er bis heute nicht. Karneval kann grausam sein.
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