Das Purgatorium der Pubertät

■ Unverbindlich fade: „800 Two Lap Runners“ von Hiroki Ryuichi im Panorama

Erziehung des Herzens auf den Aschenbahnen Kawasakis. Regisseur Hiroki Ryuichi entwirft in seiner kleinen Studie über das verwickelte Liebesleben junger Sprinter einen Mikrokosmos der Sozialisation, der Identitätsfindung, der sexuellen Verwirrungen unter Oberschulkids. Die Untiefen einer Lebensphase, in der man ständig irgendwo aufzulaufen droht, werden aber leider nur angerissen.

Der Anfang ist nicht schlecht. Nomura Yujin spielt den 17jährigen Nazawa. Mit heruntergelassenen Hosen wird er von einer Mädchenklasse in der leeren Turnhalle überrascht. Nazawa sieht gut aus und ist ein Draufgänger.

Der Direktor der Highschool will trotz der Entehrung einer seiner Schülerinnen noch einmal ein Auge zudrücken, vorausgesetzt, Nazawa erklärt sich bereit, Buße im schuleigenen 800-Meter-Sprinterteam zu leisten. Nazawa, Sohn eines recht gutmütigen Yakuza- Gangsters, ist Erfolg gewöhnt. Bislang fiel ihm das meiste zu, ohne daß er seinen Kopf groß gebrauchen mußte. Auch die ungewohnten 800 Meter nimmt er mit links. Neben seinen vielen Mädchenbekanntschaften findet er hier eine ganz andere Art der schnellen Siegesmöglichkeit.

Das ändert sich, als er auf den ehrgeizigen Hirose (Matsuoka Shunsuke) trifft, sein genaues Gegenteil: ein Oberschichts-Kid, viel Geld, eine kleinere Schwester im experimentierfreudigen Alter, ein Kopf mit zuviel widersprüchlichen Gedanken. Hirose lebt in erster Linie für seinen Sport. Eine seiner überspannten Theorien lautet: Wenn es gelingt, ausreichend Sauerstoff in den Muskeln zu speichern, sollte man ein 800-Meter- Rennen ohne Atmung siegreich bestreiten können.

Vielleicht bringen die langen Tauchgänge im Swimmingpool diese Unordnung in seine Gedanken und Gefühle. Er hat eine sehr ambivalente Haltung zur Sexualität, phantasiert von schwulen Begegnungen unter der Dusche, kennt seine Schwester vielleicht etwas zu gut. Sein Idol ist ein erfolgreicher Sprinter, der Selbstmord verübte, als er seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte; auf ihn richten sich Hiroses Phantasien.

Er überwindet sich und beginnt mit der ehemaligen Freundin seines bewunderten Vorbilds ein Verhältnis. Nachdem er sich dazu durchgerungen hat, mit ihr zu schlafen, erklärt sie ihm, das Verhältnis sei damit beendet. Was für ihn die Startlinie gewesen sei, war für sie schon die Ziellinie. Sie fragt ihn, ob er trotz ihrer Beinbehinderung mit ihr geschlafen habe, weil sie mit seinem Sprinteridol im Bett war. Statt zu antworten, richtet er die umgekehrte Frage an sie. Tränen steigen ihr in die Augen.

Love & Spikes in Suburbia. Bleischwere Tristesse im Wechsel mit anziehungsloser Schwerelosigkeit. Ein seltsames Alter, in dem man lernt, daß Strategie Glück schlagen kann, es aber keine Strategie zum Glück gibt; in dem man erfährt, daß es vom Leben keine Rückzahlungen für Versäumtes gibt, sondern man immer noch draufzahlen muß. Ein schönes Alter, Psychosen werden noch für Weltschmerz gehalten. Purgatorium der Pubertät.

Teenagersexualität kann man mit endlosen Metaphern der Gefährdung umschreiben: heißes Eisen, unergründlicher Sumpf etc. Regisseur Hiroki gelingt es wunderbar, seine Zuschauer ohne große Verluste in den scharfkantigen Mikrokosmos dieser weitläufigen Müllhalden unfertiger Gefühle zu führen. Nur fehlt leider die Attraktion, die große Werkhalle zum Umbau. Die Kids bekommen zwar alle ihren karmischen Stempel aufgedrückt und werden als geheilt oder geformt, mit leichten Lackschäden zwar, aber ansonsten fahrbereit als kleine Sondermodelle ins Leben entlassen.

Gefilmt ist das leider im unverbindlichen Stil einer überlangen Frühstücksfernseh-Doku. Nett, ihnen zuzusehen, aber mehr auch nicht. Einige Eskapaden, etwas mehr Experimentierfreude hätten dem Film nicht geschadet. Was bleibt, ist der Eindruck eines faden Spätnachmittags, irgendwo im grauen Kanto in einem etwas zu aufgeräumten 20-Tatami-Appartement im 8. Stock.

Horoki galt in den Achtzigern als Erneuerer der sogenannten pinku Eiga, des Sexfilm-Genres. Leider bleibt nur der Eindruck, daß seine Erneuerungen dazu geführt haben, aus diesem vormals recht subversiven Genre einen stromlinienförmigen Nebenzweig herausgebildet zu haben. Hoffentlich ist sein Einfluß übertrieben dargestellt worden. MAERZ

Hiroki Ryuichi: „800 Two Lap Runners“, Japan 1993, ...Min. Mit Nomura Yujin, Masayuki Sasamoto, Matsuoka Shunsuke u.a. 15.2. Haus der Kulturen 21.15 h; 16.2. Atelier am Zoo 15.30 h