Maggi-Emanzipation

■ Türken sitzen bei der TV-Werbung in der ersten Reihe

Die Zeit ist reif. Deutschland entdeckt nun endlich „seine“ Türken. Zumindest die Werbebranche. Vergessen alle Vorurteile oder Vorbehalte. Die Türken in Deutschland fungieren in den Neunzigern als vielversprechende Marktlücke, ihnen wird große Ehre zuteil, weil sie nun endlich als wertvolle KonsumentInnen unserer Wohlstandsgesellschaft, die mittlerweile keine mehr ist, ernst genommen werden.

Dreißig Jahre Anstehen an der Kasse, sprich: Konsumieren von deutschen Markenartikeln zahlt sich nun endlich aus. So verkündet es jedenfalls eine umfassende, neue Studie, nach der die TürkInnen als vernachlässigte Goldgrube in Sachen Kauffreudigkeit gesehen werden oder, besser, als Ölquelle, die man nur anzuzapfen braucht, und schon sprudelt sie wie von selbst.

Die Studie wurde von der Frankfurter Firma IPA Plus, die die Werbezeiten von RTL und RTL 2 sowie des türkischen Kabelprogramms TRT-International vermarktet, bei der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) in Auftrag gegeben. Die GfK ermittelt auch die Zuschauerquoten im deutschen Fernsehen.

Laut der neuen Erhebung bilden die 1,85 Millionen in Deutschland lebenden Türken eine äußerst junge, konsumfreudige und kaufkräftige Bevölkerungsgruppe, deren wirtschaftliche Bedeutung bisher stark unterschätzt wurde. Im Vergleich zu Deutschen zeichnen sie sich sogar durch ein höheres Markenbewußtsein aus und erfüllen formal, den Ergebnissen der Studie zufolge, alle „marktnotwendigen“ Voraussetzungen.

Türkische Arbeitnehmer erzielen pro Jahr ein Nettoeinkommen von 18 Milliarden Mark. Als selbständige Unternehmer weisen sie einen Jahresumsatz von 28 Milliarden auf. Und laut Studie fließt keineswegs das ganze Geld in die Heimat ab. In nahezu allen befragten Bereichen weisen die türkischen Haushalte eine hohe Konsumneigung auf. Wußten Sie schon, daß jeder zweite Türke neun Tafeln Schokolade und mehr im Monat vernascht? Der höhere Konsum resultiert aus der Haushaltsgröße: Im Durchschnitt zwei Personen mehr müssen in türkischen Haushalten versorgt werden. Bei der Mediennutzung spielt das Fernsehen eine noch größere Rolle als bei den Deutschen. Türken schauen im Durchschnitt mehr Fernsehen als Deutsche, dafür ist die Nutzung von Zeitungen und Hörfunk stark unterproportional. Und: Neben TRT-International, dem Auslandsprogramm des öffentlich- rechtlichen türkischen Fernsehens, soll RTL der zweitliebste Sender der Türken sein. Schön für IPA Plus, die mit Werbeeinnahmen von bis zu 25 Millionen Mark allein aus den Spots auf TRT-International rechnet.

Positivere Einstellung zur Werbung?

Den Ergebnissen der Studie zufolge schauen bis zu 430.000 Türken in der Zeit von 18 bis 22 Uhr den türkischsprachigen Sender TRT-International, der in 85 Prozent aller türkischen Haushalte über Kabel oder Satellit empfangen werden kann. Und eben genau an diesem Ort sollen nun deutsche Firmen ihre Werbespots laufen lassen.

Wieso? Weil Türken eine positivere Einstellung zur Werbung haben als die Deutschen. Für 19 Prozent bringt die Werbung „nützliche Hinweise und Tips“, bei den Deutschen sind es knapp 10 Prozent, die an die Werbung glauben. Für 21 Prozent der Türken ist Qualität wichtiger als der Preis, bei den Deutschen beträgt der Anteil dagegen 15 Prozent. 81 Prozent der TRT-ZuschauerInnen sind zwischen 16 und 45 Jahre alt, dagegen sind die deutschen Werbeblock- Zuschauer im Durchschnitt älter.

Dabei war die Werbebranche zunächst skeptisch gewesen. Lange Zeit glaubte man, daß Türken als Kaufgruppe zu vernachlässigen seien. So wurden sie von der Branche als eine homogene Gruppe definiert, die für Markenartikel nichts übrig hat und sich vor allem für Sonderangebote interessiert. Eine Branche, die mehr als jede andere mit Klischees arbeitet, ja sie sogar vermarktet und damit manifestiert, mußte zwangsläufig empfänglich sein für Klischees und Abziehbilder, die die Türken lediglich als schlußverkaufsorientierte Kundschaft darstellten. Man ging davon aus, daß Türken durch die deutschen Medien hinreichend mit Werbung versorgt seien. Und eben mit dieser Studie sollen alle Zweifel vom Tisch gefegt werden. IPA Plus und TRT-International wollen deutlich machen, daß Türken in erster Linie türkischsprachige Medien nutzen und ebendort beworben werden müssen.

Seit knapp einem Jahr zeigt sich nun wirklich eine Veränderung in der Medienlandschaft. Deutsche Unternehmen inserieren in türkischen Tageszeitungen, vor allem im Massenblatt Hürriyet, und werben gezielt mit Produkten für Türken. Was kauft der Türke von heute? Noch vor ein paar Jahren hätte man für Videorecorder geworben, heute ist es die obligatorische Parabolantenne. Und der ganze Werbetext ist natürlich übersetzt auf türkisch, nach dem Motto: Wenn Sie nicht zu uns kommen, dann kommen wir eben zu Ihnen!

Nun gibt es auch seit einem Jahr deutsche Werbespots im türkischen Fernsehen. Jetzt können die Türken die Botschaften der lilafarbenen Milka-Kuh oder des Maggi- Kochstudios Abend für Abend in türkisch empfangen und wissen endlich auch, was „das Beste im Mann“ ist. TRT-International läßt die Werbespots in der Türkei synchronisieren. So findet sich auf einmal in deutschen Spots für Fleischgerichte der Zusatz „Garantiert ohne Schweinefleisch“, zielgruppenspezifische Werbung in vollendeter Form! In Zeiten der Stagnation braucht der Markt neue Impulse, neue Ideen. Galten in den letzten Jahren die Steuerzahlerqualitäten der Türken als Berechtigung für ihren Aufenthalt, kommt jetzt ihre Kaufkraft hinzu. Endlich werden die Türken ernst genommen, ein neues Selbstbewußtsein erwacht. Vorbei sind die Zeiten des schnauzbärtigen „Gastarbeiters“, der den Blick nur in die Heimat richtet.

Nachdem die Türken jahrzehntelang als „Bürger zweiter Klasse“ be- und gehandelt wurden, sitzen sie nun endlich in der ersten Reihe... Hakan Songur